Abgehört - neue Musik Wie geht's denn so in der Gemütsgrauzone?
(Pias/Ato (Rough Trade), ab 29. Mai)
Ist aber auch ein Pechvogel, dieser Nick Hakim. Monatelang leidet er unter einer Schreibblockade, dann quält er sich dieses wirklich sehr gute zweite Album ab - und bekommt nun nicht die Aufmerksamkeit, die er dafür verdient, weil zeitgleich Moses Sumney sein nun komplettes Opus Magnum der Einsamkeit, "grae", veröffentlicht hat - und berechtigte rave reviews erntet.
Sowohl der aus Ghana stammende Afroamerikaner Sumney als auch Hakim, der familiäre Wurzeln in Chile und Peru hat, werden wegen der sehnsüchtigen Art ihres Gesangs als Soul-Sänger eingeordnet, beide sind aber eher postmoderne Kultursampler, deren Einflüsse aus R&B und Soul einerseits, aber auch aus Post-Rock, Folk, Funk, Dub und Jazz stammen. Einen adäquaten Namen hat dieses Neo- oder Post-Soul-Genre nicht, kein Wunder, dass als - manchmal hilflose - Referenz bei Sumney oft Prince genannt wird, der originäre Meister-Juicer des modernen Pop.
Auch in Hakims Musik finden sich diese Prince-Momente, im rohesten und ungenießbarsten Track "Drum Thing" in der Mitte des Albums ebenso wie in der zarten, wunderschönen Schlussballade "Whoo". Hakim ist, im Gegensatz zum Crooner Sumney, ein eher zurückhaltender Sänger und versteckt seine heiseren Verse gern hinter mehreren Lagen greller, gleißender Sounds und Effekte. In "Drum Thing" jedoch, einem auch textlich eher ungeschliffenen Ausbruch purer Angst und Verzweiflung, entfährt ihm ein zweifacher, verzerrter Urschrei, ein fast körperlich unangenehmes Hörerlebnis. "You wanted something real/ What's the use", singt Hakim in den letzten Zeilen dieser ganz nackten und entblößten Song-Skizze: Ihr wollt doch immer diese verdammte Authentizität, scheint er damit sagen zu wollen, nun lebt auch damit, dass sie schmerzhaft und unbequem ist.
Geplant war diese offensive Rohheit offenbar nicht. Er versuche immer noch herauszufinden, worum es auf diesem Album eigentlich gehe, sagt Hakim in einem Statement für sein Label. Freunde und Kritiker hätten gemeint, die Platte sei verwirrend oder zu unordentlich, messy, aber das sei okay für ihn. Der in New York lebende Musiker veröffentlichte sein weitaus harmonischeres Debüt "Green Twins" 2017 und wurde als Entdeckung gefeiert. Als gediegene Coffeeshop-Bedudelung taugt der klanglich vielfach verkantete Nachfolger nun jedoch nicht so gut, zumindest nicht durchgängig.
"Qadir", das rund sieben Minuten lange Herzstück des Albums, ist allerdings ein kommender Slow-Jam-Klassiker, ein in weicher Eleganz und Melancholie dahinplätscherndes, ultimativ tröstliches Requiem an einen verstorbenen Freund, in dem sich Echos von Marvin Gaye, Shuggie Otis und Donnie Hathaway ebenso finden lassen wie, aktueller, Michael Kiwanuka.
Es enthält auch Hakims zentrale Botschaft: The drugs don't work - sie machen uns taub und kaputt und einsam. Gemeint sind damit vor allem die in den USA allgegenwärtigen Psychopharmaka und Antidepressiva, Medikamente, die auch Hakim schon in frühester Jugend wegen Lern- und Konzentrationsschwächen verschrieben bekam. "Burn it out of my body/ This dependency don't help nobody", fleht er in "Qadir", deutlicher noch im Titelstück "WTMMG": "They suppressed what made us special all along/ Did you swallow your meds?". Übermedikation, Überstimulanz und generelle Manipulation würden uns nicht nur von uns selbst ablenken, meint Hakim, sondern auch von den Alarmsignalen, die uns Mutter Erde schon lange sendet. "Can you feel our mother raging/ She'll flood us out her heart is flaming/ Pretty soon we'll be underwater", flüstert er mit schwacher Stimme in "All These Changes".
Anstrengende, psychedelisch verspulte Stücke wie "WTMMG", "Drum Thing" oder "Bouncing" werden kontrastiert mit anschmiegsameren Songs: das auf der Gitarre gezupfte "Crumpy" (mit Kumpel Mac DeMarco), das luxuriös dahingleitende "Gods Dirty Work" und "Whoo", in dem Hakim sein Heil in der Liebe findet, hoffentlich nicht in einer neuen Abhängigkeit: "I stopped abusing myself around you/ I started using myself around you".
Wie Moses Sumney forscht, tastet und stochert auch Nick Hakim nach existenziellem Sinn und menschlicher Zugehörigkeit in einer kalten, komplexen Welt. Beide Künstler nutzen die Umarmung der wärmenden, immer auch spirituell aufgeladenen Soulmusik und setzen disharmonische, maschinelle Störgeräusche ein, um ihre Gefühle von (Selbst-)Entfremdung und Desorientierung zu reflektieren. Während sich Sumney mit gefestigter Brillanz nach Stevie Wonders Großwerken der Siebziger streckt (minus die Funk-Grooves), erinnert Hakims brüchiger Flow manchmal an Isaac Hayes, allerdings eher "sad battered" als "hot buttered". Wie auch immer, eine passendere, herausforderndere Begleitung durch die von der Coronakrise erzeugte Gemütsgrauzone kann man sich nicht wünschen als dieses zufällig parallel veröffentlichte Album-Doppel. (8.2) Andreas Borcholte
(Interscope Records, ab 22. Mai)
The 1975 sind die beste schlimme Band der Welt. Sechs Jahre, nachdem sie im Musikmagazin "NME" gleichzeitig zur "schlechtesten Band des Jahres" und in die Liste der "hoffnungsvollsten Newcomer" gewählt wurden, ist diese Formel nicht nur weiterhin gültig, sondern auch ein Erfolgsgarant: "Notes On A Conditional Form", das vierte Album der Briten, wird aller Voraussicht nach wieder absurd erfolgreich damit werden, nach allen denkbaren Spielarten der Popmusik zu klingen.
Dabei sind die vier Schulfreunde aus Manchester nicht unbedingt Genre-Bender. Innerhalb ihrer Songs bleiben sie meist sortenrein, dafür basteln sie ihre Alben zusammen wie Compilations: Für jedes Stück schlüpft Sänger und Songschreiber Matthew Healy in eine andere Rolle, immer im Zwiespalt, sich der Erotik einer ordentlichen Rockstar-Inszenierung nicht entziehen zu können, die Ideenlosigkeit der Indiemacker aber grundsätzlich doof zu finden.
Zum Auftakt überlässt er die Bühne einem anderen Popstar: Wie jedes Album der Band beginnt auch dieses mit einem Song namens "The 1975", in dem diesmal die leibhaftige Greta Thunberg zu zivilem Ungehorsam auffordert. Dem Spoken-Word-Stück, das schon seit vergangenem Sommer im Umlauf ist, folgt eine Reise in die Abgründe der Neunzigerjahre: Als eine Art entkarnevalisierter Marilyn Manson brüllt Healy im Emo-Hardrock-Stück "People" ein paar gut beobachtete Wahrheiten über seine Generation in die Welt, um wenig später im zarten Folksong "Jesus Christ 2005 God Bless America" zusammen mit der US-Sängerin Phoebe Bridgers über das vertrackte Verhältnis von Religiosität und Queerness nachzudenken: Was für eine Revue der Zeitdiagnostik!
Die Sexting-Fantasie "If You're Too Shy (Let Me Know)" mit Saxofon und Vocals von FKA Twigs klingt nach der perfekten Schnittmenge aus Phil Colins und Duran Duran, der "Me & You Together Song" hingegen verdächtig exakt nach "What I Go To School For" der englischen Pop-Punk-Eintagsfliegen Busted aus den frühen Nullerjahren. Und im Video zum tieftraurigen "The Birthday Party", ein Song über die Überwindung von Healys Drogensucht, taucht der Sänger als Avatar in ein idyllisches Achtsamkeitsparadies ein - und als digitaler Narziss in einen Teich, der sich als Nutzeroberfläche eines Computers erweist. Uff, ja.