Abgehört - neue Musik Rein in den Morgenmantel und rüber an den Flügel!
(BMG/Warner, seit 10. Juli)
Hallo, Rufus, good morning! Unübertroffen schnöselig wühlt sich unser Held zu Beginn seines neuen Albums unter den Kissen und Decken eines Himmelbetts hervor. Die Haare sitzen perfekt unperfekt, der Blick ist angewidert von Lichteinfall und Uhrzeit. Aber es hilft ja nichts. Rein in den Morgenmantel und rüber an den Flügel, einmal kurz antasten und dann losgelegt. "There’s always trouble in paradiiiise", beklagt der Künstler, wobei allein drei Sekunden vergehen, bis er die ganzen "i"s im letzten dieser Worte gesungen hat. Um ihn herum blinken Streicher, Holzbläser und E-Gitarre auf, wir sind längst wieder voll drin im Schichttorten-Pop von Rufus McGarrigle Wainwright. Wenn schon er, dann auf jeden Fall so.
"Unfollow The Rules" hat Wainwright sein neuntes Album genannt. Es erscheint acht Jahre nach dem letzten und als Reaktion auf eine für ihn zunehmend unbefriedigende Schaffensphase voller Shakespeare-Vertonungen, Opernkompositionen und anderer hochkultureller Abenteuer. Zu viele Dirigenten, Regisseure und Konzerthausmanager in seinem Leben, hat Wainwright wohl irgendwann bemerkt. Auf der Suche nach Zerstreuung flossen zwölf neue Popsongs aus ihm heraus, die man natürlich nur dann zerstreuend finden kann, wenn man sich jeden Abend mit dem Gesamtwerk von Wagner in einen traumlosen, totengleichen Schlaf quält.
Nennen wir "Unfollow The Rules" also einfach Rufus-Musik. Ein Wettzwitschern der Streicher und gesanglichen Verschnörkelungen, ein Album mit Chor und Tuba und Wainwrights Traumwandel-Klavier natürlich, aber auch mit prominent beackerter Akustikgitarre. Der Künstler singt neue Selbstporträts, die "Romantical Man" und "Damsel In Distress" heißen, Songs, die davon handeln, was er bis hierher geleistet hat und im zweiten Akt seines Lebens noch leisten will. Paul Simons "Graceland" soll ein Bezugspunkt der Aufnahmen gewesen sein, Leonard Cohens "The Future" ein anderer. Fluffige Mittvierziger- bis Endfünfzigermusik also, gemacht für Leute, die darüber nachdenken, eine Affäre mit ihrem Au-pair anzufangen.
Wainwright setzt damit auf eine sichere Traditionslinie. Natürlich tapst und strudelt das Piano unschlagbar schön auf "Unfollow The Rules". Die Arrangements sollte ein Bildhauer in Stein meißeln und die koketten Posen beschwören Humor und Verzweiflung nicht schlechter herauf als vor acht Jahren. Aber will diese Musik auch etwas von ihrem Publikum? Möchten die Songs mehr sein als makellos herausgeputzter Kammerpop und ironisch gebrochener Dad-Rock? Brennt da noch irgendwo ein Vulkan, in den sich Wainwright hineinstürzen könnte?
Die Antwort liegt im vorletzten Stück. "Devils And Angels (Hatred)" ist der aufgescheuchte Song auf "Unfollow The Rules": Wainwright spielt das Klavier mit ungewohnt hartem Anschlag, ein paar Geigen zicken herum, sogar ein Synthesizer mosert dazwischen, der Refrain kippt ins (nach wie vor gut organisierte) Chaos. Das liberale Amerika, Wainwrights Zuhause der Schöngeister, Operngänger und Morgenmantelträger, steht hier unter Beschuss. Gemeinsam mit seiner Schwester Martha ruft der Künstler die Geister des Hasses an und wappnet sich für einen Kulturkrieg, der irgendwann auch vor seiner Haustür im kalifornischen Laurel Canyon ankommen könnte.
Nur ein Lied später hat sich der Sturm allerdings schon wieder gelegt. Wainwright sitzt am Klavier und singt, was er schon immer so schön gesungen hat. "I neeeed a little alone time" lautet die Schlüsselzeile des Abschiedssongs, und diesmal sind es die vielen "e"s im zweiten dieser Worte, die den Künstler mehrere Sekunden kosten. Wahrscheinlich werden nun wieder einige Opern und Musicals vergehen müssen, bis wir neue Popsongs von Rufus Wainwright hören. Mal gucken, was dann noch übrig ist von der Welt. (6.5) Daniel Gerhardt
(Sounds of Crenshaw/Empire, seit 10. Juli)
Vor sogenannten Supergroups, im Rock wie im Jazz, sollte man sich in Acht nehmen: Oft drücken die eigentlich zum lockeren Jam verabredeten Musikeregos sich gegenseitig an die Studiowand. Heraus kommt dann oft eine völlig falsch verstandene Idee von Tightness. Dinner Party, das gemeinsame Projekt einiger der innovativsten US-Musiker an der Schnittstelle zwischen Hip-Hop und Jazz, hätte also auch eine Veranstaltung werden können, die man schnell wieder verlassen möchte. Doch Initiator Terrace Martin, unter anderem Produzent von Kendrick Lamars bahnbrechendem Album "To Pimp A Butterfly", war sich der Gefahren bewusst: "Ich wollte, dass dieses Album ein Haus ist, in das der Zuhörer mit seinem eigenen Mobiliar einziehen kann", sagte der 41-Jährige dem Magazin "Fader".
Das nur 23 Minuten lange Album wirkt tatsächlich so offen und entspannt wie ein Treffen guter Freunde zum Dinner. Auf dem Menüplan: "A lot of music. Good water. Good vegetables. Fruit. Good vibes. A lot of motherfucking weed", so Martin. Jeder der Gäste brachte ein bisschen was mit: Kamasi Washington sein Saxofon und sein Talent, Be-Bop- und Fusion-Jazz in einen Popzusammenhang zu setzen; Pianist Robert Glasper seine bezwingende Art, seelenvolle Keyboards durch raue Urbanität wehen zu lassen; Produzent (und Jazz-Professor) 9th Wonder alias Patrick Denard Douthit sein Gespür für die Legacy afroamerikanischer Musik im modernen Rap und R&B. Auf vier von sieben Tracks ist zudem der Chicagoer Sänger Phoelix zu Gast, der bisher vor allem durch seine Arbeit mit Rapperin Noname bekannt ist. Der Gesangsanteil im Marvin-Gaye-Falsett macht aus der vibe- und beatslastigen Jazz-Party ein auch für den Pophörer attraktives Crossover-Ding, ein durchaus komplex arrangiertes, aber im Gehörgang sehr anschmiegsames Soul-Album.
Manchmal ist die Stimmung sogar zu entspannt, wenn sich Washingtons Saxofon-Spiel etwas zu bescheiden im Hintergrund einordnet und Glaspers Keys allzu beiläufig in den Mix perlen. Dann droht aus der Soul-Kitchen ein Kaffeekränzchen mit den alten Tanten Grover Washington und Wynton Marsalis zu werden. Doch nicht zuletzt die lebhaften Beats von Martin und 9th Wonder machen immer wieder deutlich, dass hier die nächste Generation Jazzer am Werk ist, die sich mit ihrer lässigen "Dinner Party" eine wohlklingende Auszeit gönnt.
Denn selbst in den süßesten Zuckersmoothies des Desserts lauert immer schon der nächste Alltag: "They told me put my hands up behind my head/ I think they got the wrong one / I'm sick and tired of runnin'”, singt Phoelix kurz vor Schluss in "Freeze Tag" - und greift damit racial profiling und die andauernde Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA auf, der Track endet schwermütig auf einigen von Glasper auf dem E-Piano gespielten Blue Notes. Black Lives Matter, das heißt für diese versierte Freundesrunde auch, sich in diesen temporären Safe-Space afroamerikanischer Popkultur - Funk, Jazz, Hip-Hop, R&B – fallen lassen zu können. Für einen leichten Happen Soul-Food. (7.6) Andreas Borcholte
(Because Music/ Caroline, seit 10. Juli)
Man muss sich Stéphanie "Soko" Sokolinskis musikalisches Werk wie ein großes Stück Seife vorstellen. 2007 nimmt die französische Schauspielerin und Sängerin es aus der Schachtel und ritzt mit einem Schälmesser die Worte "I'll Kill Her" hinein. Die Seifenfetzen fliegen. Es ist Wut, scheinbar auf eine andere Frau, die sie umbringen will, weil sie mit dem Mann ausgeht, in den sie - also Soko - sich verliebt hatte. "I'll Kill Her" wird zum Lo-Fi-Hit der Myspace-Jahre.
Auf ihrem ersten Album "I Thought I Was An Alien" (2012) sucht Soko in beinahe jedem Song nach Liebe und Zugehörigkeit, eigentlich also nach Selbstliebe. In der Musikindustrie findet sie die vorläufig nicht. Soko dreht wieder mehr Filme - und macht, was so viele Schauspieler und Schauspielerinnen eines Tages machen: Sie zieht nach Los Angeles. Dort nimmt sie wieder die Seife zur Hand, ritzt ein paar Lyrics ("Temporary Mood Swings") und Cover-Palmen von The Cure hinein. "Dreams Dictate My Reality", ihr zweites Album, ist voller L.A.-gerechter Anxiety. "I am an antisocial mess/ And i suffer from heavy stress", singt sie zu New-Wave-Gitarren. Das war 2015.
Soko macht eine Therapie und legt sich ein Zölibat auf. Sie will Liebe nun nicht mehr bei anderen suchen, sondern in sich selbst finden. Sie wirft ihr Seifenstück voller Ritzer in einen Eimer Wasser. "Feel Feelings" steht auf dem Eimer. Er ist ein neues Album, eines, auf dem sie nicht mehr versucht, international zu klingen. Sie lässt sich in all ihrer Frenchness jetzt zu. Weg mit dem Selbsthass! "Being Sad Is Not A Crime", singt sie und klingt dabei so gelassen, so selbstsicher wie nie zuvor: Ihr Mund ist nah am Mikro, ihre heisere Stimme wird von weichen, säuselnden Synthesizern getragen. Das ganze Album glitscht in dieser soften Stimmung durch die Gehörgänge. In diesem Seifenwasser scheint sich gleich die ganze Familie Gainsbourg aufgelöst zu haben. Besonders in "Blasphémie", ihrem ersten auf Französisch getexteten Song, atmet Soko tief ein und tief aus. Aus der Seife werden Blasen. Sie reflektieren alle Farben. "Oh, To Be A Rainbow" verhandelt ihr Angekommensein in einer Beziehung mit einer Frau.
Derart mit Synthie-Selbstakzeptanz geschmiert, rutscht sie durch das Album. Manchmal ist da noch ein sexy Bass oder ein langsames Schlagzeug, das einen taktvoll daran erinnert, dass die Zeit nicht einfach stehen bleibt. In "Now What" spielt Soko erst hörbar, dann durch vielfaches Layering weniger wahrnehmbar Gitarre, während sie überlegt, was jetzt eigentlich noch kommen könnte. Man möchte ihre Seife in einen großen Spender abfüllen und "Nur Mut" draufschreiben. Denn "Feel Feelings" ist zwar nicht sonderlich innovativ oder vielseitig, aber es ist ein Mood. Einer, der einem den Alltag zerlaufen lässt, in etwas ziemlich Angenehmes. (7.0) Julia Friese
(Pudel Produkte/Zebralution, seit 8 Juli)
"Was denkst du eigentlich über die Situation in Afrîn?" Fragen, mit denen sich die meisten höchstens dann konfrontieren, wenn sie den ausländischen Politikteil der Zeitung nicht gleich für den Sport überblättern, gehören für die Hamburgerin Leyla Yenirce oft zum Party-Smalltalk - unfreiwillig, versteht sich. "Schon mal darüber nachgedacht, dass Kurd*innen nicht 24/7 über Krieg reden wollen?", fragt sie daher in ihrer Kolumne im feministischen "Missy Magazine" zurück. Schwarze und People of Color können von solchen Situationen ein Lied singen, gehen viele weiße Menschen doch davon aus, dass diese aufgrund ihrer Hautfarbe Expertinnen in allen politischen Fragen zu "ihrem Land" seien und dieses Wissen gern zu jeder Tages- und Nachtzeit kundtun.
Und es ist ja auch nicht so, dass Yenirce nichts zum Thema zu sagen hätte: Auf ihrem 2019 erschienen Rosaceae-Debüt "Nadias’s Escape" setzte sie sich durch düstere Soundcollagen, Noise und Drones mit dem Genozid des Islamischen Staates (IS) an der jesidischen Minderheit auseinander. Es ist benannt nach der Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad, die 2014 vom IS entführt, versklavt, vergewaltigt und gefoltert wurde, ehe ihr die Flucht gelang. Nicht gerade ein angemessenes Thema für den nächsten Tequila-Shot, oder?
Niemand kann rund um die Uhr Aktivistin sein – schon gar nicht, wenn es familiäre Traumata triggert. Yenrice befreit sich daher zumindest künstlerisch aus diesem Dilemma: Als postmigrantische Rapperin Natascha P. droppt die "Teilzeit-Hedonistin" lässig widerborstige Rhymes. Als konzeptuelle Noise-Experimentalistin Rosaceae erforscht sie das kollektive Trauma der jesidischen Diaspora mit brachialen Sounds.