Abgehört - neue Musik Brecht und Bono
U2 - "Songs of Experience"
(Island/Universal, ab 1. Dezember)
"Hey, do you know my name?", singt Bono im zweiten Stück auf "Songs of Experience". Ja, seinen Namen kennt man, und auch den seiner Band. Erkennt man in U2 noch die "Lights Of Home", die Lichter der Hoffnung und der Liebe, wie es im Text weitergeht? Sagen wir, es wird schwieriger, wenn man die größenwahnsinnige Album-für-alle-Aktion auf Apple Music vor drei Jahren bedenkt - und nun auch noch die nachhaltige Erschütterung von Bonos Moralwächter- und Saubermann-Image durch die Paradise Papers. Geplante Interviews zum Album sagte er nach der Offenlegung seiner Investitionen in Steueroasen-Firmen lieber ab.
Die Arbeiten an "Songs of Experience" wurden von der Band mehrfach unterbrochen, zunächst wegen Bonos Fahrradunfall im Central Park, dann wegen der samt Trump, Brexit, Terror und Nationalismus ins Dystopische kippenden Weltlage, die eine tendenziell politische Band natürlich irgendwie abbilden will. "The Blackout" war der erste Vorbote des Albums, der mit diesen Untergangsszenarien spielte, aber außer Rückgriffen auf die verfremdeten Gitarrensounds von "Mysterious Ways" auch keine Idee dafür anbot, was zu tun ist, wenn die Lichter ausgehen: "Democracy is flat on its back, Jack" - ernsthaft?
"American Soul", von Kendrick Lamar bereits auf seinem "Damn"-Album gesampelt (hier revanchiert er sich mit einem Song-Intro), ist das andere große Statement des Albums. Denkt man. "This country is for me/ The sound of drum an bass", fabuliert Bono dann aber, um im Refrain "Heureka"-mäßig zu shouten: "YOU! ARE! ROCK'N'ROLL!". Das Gefühl für die amerikanische Seele, die in "Rattle And Hum" die U2 vor 30 Jahren schon mal kongenial eingefangen hatten, ist ihnen auf dem Sprung ins 21. Jahrhundert irgendwie entglitten.
Zum Glück beschränkt sich der Rest des Albums darauf, die verschlungenen Pfade der Liebe nachzuziehen. Es wird sehr viel von Wegen geredet, manchmal sind sie auch orthografisch unwegsam: "Love Is Bigger Than Anything In Its Way" ist wohl der scheußlichste U2-Songtitel aller Zeiten. Und das muss man erstmal schaffen nach "All That You Can't Leave Behind", "Stuck In A Moment You Can't Get Out Of" und "I'll Go Crazy If I Don't Go Crazy Tonight".
Aber zumindest hier bleiben U2 einigermaßen sperrig, wenn nicht originell. Angesichts von 14 Studioalben, 41 Jahren Bandgeschichte und einem Album, das "Lieder der Erfahrung" heißt, hätte man inhaltlich etwas mehr erwartet als das hilflose Credo "Love Is All We Have Left", mit dem die Platte eröffnet - und Bono gleich mal durch den Autotuner schickt, damit ja kein Authentizitätsverdacht aufkommt. Im schmierigen Fifties-Rock'n'Roll-Derivat "The Showman" ätzt Bono gegen die billigen Tricks anderer Sänger, alles Heuchler: "The showman prays that his heartache will chart/ Making a spectacle of falling apart/ Is just the start of the show". Wenn's ein Selbstgespräch ist: der vielleicht ehrlichste Moment des Albums.
Ansonsten haben Produzent Ryan Tedder (Ex-OneRepublic), Jacknife Lee, Andy Barlow von Lamb und Band-Intimus Steve Lillywhite alles schön auf Pop-Hochglanz poliert, der vor allem bei der nächsten Stadiontournee funkeln wird. Als Live-Band sind U2 nach wie vor die Bestverdiener und Spitzenreiter der Branche, mit den Albumverkäufen, wie auch mit der Qualität neuer Musik, ist es schon länger so eine Sache. Selbst in Irland, der Heimat U2s, stieg die Single "You're The Best Thing About Me" nur auf Platz 93 der Charts ein.
Worum geht es also noch? Um Hymnen, die sich mit nostalgischem Schwermut verknüpfen lassen. Davon gibt es reichlich. Aber wie viel energischer und dringlicher wirkte da noch vor drei Jahren der vielgeschmähte Vorgänger "Songs of Innocence", der ja kurioserweise in der Vergangenheit der Band wühlte. In der Gegenwartsbetrachtung hingegen machen U2 schlapp. Sie beherrschen die nötigen Gesten, aber sie füllen diese nicht mit Kraft.
"The end is near" jault Bono dann vielleicht auch zu Recht in "The Little Things That Give You Away", während Gitarrenheld The Edge im Hintergrund nochmal auf "Unforgettable Fire" macht. Auch "Red Flag Day" streckt sich mit Oh-hooo-Ho-Pathoschören zurück in die Zeit, als U2 im Jahrespoll des "ME/Sounds" obligatorisch zur "Besten Band" gekürt wurde. Lange her. (4.0) Andreas Borcholte
Nabihah Iqbal - "Weighing of The Heart"
(Ninja Tune, ab 1. Dezember)
Moment, ist das jetzt Fortschritt oder ein Rückschritt? Entscheiden Sie im Zweifel einfach selbst. Nabihah Iqbal geht auf ihrem Debütalbum nämlich den umgekehrten Weg einer ganzen Reihe alternder Indie-Rocker, die in den letzten Jahren mit einem flotten Genrewechsel ihre abgestandene Karriere wieder aufzurühren versuchten: Sie stellt die elektronischen Instrumente in die Ecke und greift... zur Gitarre!
Dabei hatte sich Iqbal unter dem Namen Throwing Shades in der Szene schon einen Namen gemacht. Das britische Magazin "Dazed and Confused" bauchpinselte erst kürzlich anlässlich ihrer jüngsten EP "House of Silk": "Londons größte Alternative-Pop-Hoffnung". Es wäre also ein Leichtes gewesen, einfach weiter auf elektronischen Äther-Pop mit Widerhaken zu setzen und irgendwann die verdienten Lorbeeren zu ernten.
Aber nichts da. Mit "Weighing of The Heart" legt die Britin konsequent alle Schalter auf neu - oder eben alt. Denn zugunsten einer "besseren Live-Performance", wie es im Pressetext heißt, hat sich Iqbal dazu entschlossen, ihre Musik fortan organisch umzusetzen. Also mit Gitarre, Bass, Schlagzeug und Synthesizer.
Das funktioniert ironischerweise dann am besten, wenn Iqbal ihren alten Sound mit neuen Mitteln, nun ja, covert. Etwa im starken "Zone 1 To 6000" mit entlarvendem Sprechgesang: "From this life into the next/ We're all just trying to make it through", konstatiert Iqbal darin. Der Rest der elf Songs möchte hingegen mehr oder weniger erfolgreich irgendwas zwischen The Cure und New Order sein. Klingt dabei aber leider, als hätte Robert Smith einen Tranquilizer zu viel eingeworfen. Trauriger Höhepunkt: Das derangierte "Slowly", das wirkt, als hätten die Cocteau Twins den "Top Gun"-Soundtrack aufgenommen - inklusive Flugzeugstart-Geräuschen.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: "Weighing of The Heart" hört sich durchaus gut an. Mehr aber eben auch nicht. So muss man unwillkürlich an die Single "Something More" denken, die laut Iqbal den irrationalen Wunsch des Menschen nach immer mehr verhandelt. Valider Punkt. Aber gerade dieses something more hätte ihrem Debüt nicht geschadet. (5.5) Dennis Pohl
Neil Young & Promise of the Real - "The Visitor"
(Reprise/Warner, ab 1. Dezember)
Any protest music is good protest music - so könnte man angesichts der gesellschaftlich prekären Zeiten einen alten Marketingspruch umtexten. Aber stimmt das? Neil Young, soeben 72 Jahre alt geworden, hängt sich jedenfalls auf seine alten Tage noch einmal richtig rein ins Protestcamp. Sein 39. Studioalbum nahm er, wie zuvor schon sein Anti-Monsanto-Album, mit der Band von Willie Nelsons Sohn Lukas auf. Die zweite Zusammenarbeit mit Promise of The Real macht klar: Wenn diese Truppe mit von der Partie ist, wird's politisch.
Und wie: "I'm Canadian by the way/ And I love the USA", beginnt Young die Momentaufnahme eines Besuchers, "Visitors", aus einem Land in Unruhe und Verwirrung. No wall, no ban, no fascist USA", postuliert er in "Already Great" und erinnert seine Nachbarn im Süden daran, dass sie niemanden brauchen, der sie zu erneuter Greatness führt: "You're the promised land/ You're the helping hand". Die Band rumpelt dazu gemächlich vor sich hin, als wäre Young nun tatsächlich Wiedergänger Woody Guthries. This land mag zwar nicht sein Land sein, aber er macht sich trotzdem Sorgen. Als "Game show host" verspottet er Trump wenig später in einem Song, aber der US-Präsident spielt nur eine Nebenrolle; "Lock him up" lässt er in "When Bad Got Good" gegen Ende noch einen Arbeiter-Blues-Chor rufen: "You lie! You lie".
Ja, es wird deftig und oft auch ein wenig sperrig, wenn Onkel Neil zum Bertolt Brecht des American Folk wird: In "Fly by Night Deal", einem der besseren Songs eines insgesamt durchwachsenen Albums, stellt er Befehle bellenden Pipeline-Magnaten gegen einen Bürgerchor, der "No more, no more" barmt. "Children of Destiny" bedient mit Orchestereinsatz ganz große Pathos-Leinwände, wenn Young staatstragend insistiert: "Preserve the ways of democracy (... ) Stand up for what you believe/ Resist the Powers that be". Und das zehnminütige "Forever" am Schluss hebt erneut den Zeigefinger für den Umweltschutz: "Earth is like a church without a preacher/ The people have to pray for themselves." Gut, dass die Erde wenigstens Padre Neil Young hat, der die Menschen daran erinnert.
"Stand tall", macht euch gerade, ermahnt er die Amerikaner, um sich danach, im kuriosen "Change of Heart" völlig im Metaphernrausch zu verirren: "Hate is not worth using/ even as cement/ To build your walls you hide behind", singt er mit schon brüchiger Johnny-Cash-Stimme - und ermächtigt sich selbst zum Katalysator für den kommenden Aufbruch in bessere Zeiten (oder ins Vergessen): "I'm your emotion/ I'm your fresh beer/ So drink me up, laugh away/ Let's all continue on another day. Das passt dann ganz gut zum großen "Carnival", der Freak-Show, die Amerika für ihn offenbar gerade ist. Die Band macht das ganze Brimborium willfährig und hinreichend kompetent mit - hier im beschwingten Santana-Mariachi-Modus. Aber zu schlagkräftigen Songs oder gar Hymnen zusammenfügen will sich Youngs Agitationslyrik dann doch nicht - ein Problem, das bereits "The Monsanto Years" hatte. Zu oft denkt man beim Hören darüber nach, wann eigentlich aus Protest Parodie wird. Und das sind nun wirklich keine Gedanken, die man mit Neil Young verknüpfen will. (6.5) Andreas Borcholte
Yung Lean - "Stranger"
(Year0001/Kobalt, seit 10. November)
An ihren Nebeln sollt ihr sie erkennen: Young Leans Spezialität ist die Cloud-Variante des Hip-Hop, die sich bis ins gern benutzte Autotune-Winseln durch extreme Lo-Fi-Synthetik auszeichnet. In den Tracks hängen sämige Soundwolken voller Beulen, Schlieren und Schwaden in Räumen, die sich weit und karg wie vernebelte Tropfsteinhöhlen anfühlen. Angeregt durch Psychedeliker wie Rapper Lil B und Produzenten wie Clams Casino treiben diese Sounds seit Anfang des Jahrzehnts durch die sogenannte Blogosphäre. Historisch handelt es sich um ein Subgenre des Down South-Hip-Hop aus dem US-Süden.
Dass Cloud-Rap Internet-betrieben ist, kann man gut daran erkennen, dass Yung Lean und sein Produzent Yung Gud von der Crew Sad Boys mit ihrer psychedelischen Melancholie und rhythmischer Verschleppung zu den einflussreichsten Figuren des Genres gehören, obwohl sie aus Stockkolm kommen - im Hip-Hop kennt man Taktgeber aus Europa sonst eher nicht.
Allerdings ist Jonatan Leandoer Håstad, wie Lean bürgerlich heißt, nicht gerade ein virtuoser Rapper. Sein Reden über schleim- und angstlösende Mittel - bevorzugt Codein (aka Lean), Xanax und Percocet - hört sich nicht sehr bunt an, obwohl sie zu sogenannten Purple Dranks gemixt werden. Am engen Themenfeld liegt das nicht, Typen wie Lil B oder A$AP Rocky wissen durchaus, wie man auch mit begrenzter Sicht schillernd beschreiben kann.
Dafür hat Lean aber sein Markenzeichen, den wehen, melodiösen Singsang, hier nicht nur auf Vorzeigetracks wie "Red Bottom Sky" ziemlich perfektioniert; und wenn der jammernde Tonfall unter Autotune-Einfluss zu doppeln droht, dann findet er, wie im bezeichnend betitelten "Push/ Lost Weekend", stets einen furchtlos popmelodischen Dreh.
Offenbar besitzt er zudem Mut und einen gewissen Galgenhumor. Man muss in diesem Genre natürlich Katerstimmung vermitteln können. Aber Lean geht am Schluss dieses konsequenten Albums einen Schritt weiter. Statt Beats gibt es in "Agony" nur ein hallig verstimmtes Klavier, das so tragisch klingt wie in Daniel Johnstons Hobbykeller aufgenommen; mit einem Kinderchor singt er dazu zärtlich und wund von Hexen und Drachen, von Isolation und der Angst vor dem Wahnsinn: Als der damals 18-jährige 2015 in Miami ein paar Tracks produzierte, bombte er sich für ein paar Monate erst in eine Psychose, dann in die Psychiatrie. In "Agony" kommt er ramponiert wieder nach Hause.
Lustigerweise endet das Album danach, wie als Cliffhanger, wieder mit einem Drogenstück. Der Dampf geht weiter. (7.3) Markus Schneider
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)