
Neuer Musiktrend Maximal-Pop: Jederzeit Vollgas
Neuer Trend Maximal-Pop Ihr kriegt alles, und zwar sofort
Michael Angelakos hat eine sehr angenehme Bruststimme. Mit ihr kann er so eindringlich und beflissen singen, wie ein geübter Vorleser vortragen kann. Von dieser Stimme ist auf seinen Alben aber kaum etwas zu hören. Oft presst er sie innerhalb der ersten Sekunden eines Songs in Falsett-Höhen. Dazu breitet ein Synthesizer flirrende Klangflächen aus, ein anderer setzt quiekende Akzente, der Drumcomputer peitscht, kurz setzt ein Glockenspiel ein, dann ertönt ein Beach-Boys-artiger Chor.
Von allem alles - das ist das Arbeitsprinzip von Angelakos, der mit seiner Band Passion Pit gerade das zweite Album veröffentlicht hat. War ihr Debüt "Manners" von 2009 schon mit Sound-Ideen und Melodieansätzen zum Bersten gefüllt, quillt "Gossamer" nun über. "Ein überwältigendes Album übers Überwältigtsein" hat die Musik-Website Pitchfork die Platte genannt.
Dass sich solch ausladende und ausfransende Musik der einfachen Kategorisierung entzieht, liegt nahe. Tatsächlich findet sich im Elektro-Pop, dem Genre, dem Passion Pit wohl am ehesten zuzuordnen ist, kein Act, der so hemmungslos sämtliche Sound-Register zieht. Doch blickt man etwas weiter, erkennt man, dass Passion Pit Teil eines größeren Musiktrends sind, der sich am besten mit dem Begriff Maximal-Pop beschreiben lässt und dessen Einfluss längst weltweit die Charts erreicht hat.
Klingeltonwerbung oder Computerspiel-Highscore?
Im vergangenen Dezember machte der britisch-amerikanische Musikautor Simon Reynolds Maximalismus bereits als die bestimmende Entwicklung der vergangenen ein, zwei Jahre im Bereich der elektronischen Musik aus. Wichtigster Beleg ist ihm dabei der junge schottische Produzent Rustie, der 2011 sein Debütalbum "Glass Swords" vorlegte. Bei Rustie krachen die Sound-Blöcke noch härter aufeinander als bei Passion Pit, er kommt eindeutig aus dem Clubbereich. Gepitchte Vocals, die nicht selten an die Chipmunks erinnern, halten seine Tracks nur lose zusammen, dazwischen ziehen die aus dem Dubstep bekannten, extrem abfallenden Bässe ihre Schneisen. So baut Rustie Spannungsbögen auf, um sie letztlich in ganz andere Richtungen abzuknicken.
Wie schlüssig das bei aller Disparität ist, zeigt sich im Vergleich zum US-Amerikaner Skrillex, der mit seinem Maximal-Sound zu einem der erfolgreichsten elektronischen Künstler der letzten Jahre wurde. Auch hier flirren dürre Vocals und Synthesizer um die Wette, dazwischen platzen aber Sounds, die an Klingeltonwerbung oder Computerspiel-Highscore-Jubiliertöne erinnern. Interessante Kontraste in den Song-Texturen erreicht Skrillex so nicht - eher wirkt das wie ein häppchenweises Anfüttern seines jugendlichen Stammpublikums mit Geräuschen aus dessen Nahwelt.
Simon Reynolds macht den Ursprung dieses digitalen Maximalismus im Progressive Rock der Siebziger fest, der mit Bombast und Experimentierfreude über die Ränder der Genre- und Songkonventionen quoll. Diese Rückführung liegt nahe, da Skrillex früher Sänger in einer Rockband war. Doch auch andere Acts zeigen, wie fließend der Übergang zwischen digitalem und analogem Maximalismus ist: Das französische Dance-Duo Justice legte nach seinem Durchbruchsalbum "†" mit fast klassisch anmutendem Prog Rock nach und ersetzte Synthie-Sound mit Gitarrensoli.
Die Xenomania-Revolution
Soviel der aktuelle Maximal Pop mit dem Bombast Rock gemein haben mag - wahrscheinlich sind "Bohemian Rhapsody" von Queen (1975) und "Music" von John Miles (1976) die ersten Maximal-Pop-Hits - so wenig erklärt die Genealogie den Charakter und den Appeal des neuen Sounds.
Ergiebiger ist da ein Blick in die jüngere Chart-Geschichte. Etwa um 2000 herum fing das von Brian Higgins gegründete britische Produzententeam Xenomania an, die Strukturen klassischer Popsongs durcheinander zu wirbeln. Einer ihrer ersten typischen Hits wurde "Round Round" von den Sugababes. Higgins beschreibt den Song so: "Wir haben elektronische Elemente und Gitarren und Tempowechsel und Melodieverschiebungen zusammengebracht, so dass der Refrain schließlich die einzige sich wiederholende Melodie war. Bei traditionellen Popsongs wiederholt sich die Melodie der Strophe."
Mit ihrem Ansatz, Popsongs gnadenlos zu zerlegen und neu zusammenzusetzen, verhalfen Xenomania Künstlerinnen wie Kylie Minogue, Girls Aloud oder Gossip zu Welt-Hits. "Sie arbeiten modular, sie entwickeln sehr viele verschiedene Ansätze für ein und denselben Song", erklärte Chris Lowe von den Pet Shop Boys im "Spex"-Interview die Arbeit von Xenomania. "Anschließend entscheidet Brian dann, welche Melodie tatsächlich benutzt wird. Mitunter entstehen auf diese Weise überraschende Songstrukturen. Was eigentlich als Melodie für die Strophe gedacht war, kann als Refrain ganz neu klingen, wie noch nie gehört. (...) Bei Brian kann sich alles jederzeit überall hinentwickeln."
Mittlerweile hat die englische Hit-Fabrik Nachahmer in den erfolgreichsten Studios der USA gefunden. Produzenten wie Max Martin, Dr. Luke, David Guetta oder das Duo Stargate erarbeiten zunächst einen Beat und einige Akkordfolgen, dann setzen sie sich mit sogenannten top-liners zusammen, um das komplette Songgerüst zu bauen. Top-liners fällt die Aufgabe zu, die entscheidenden Melodie- und Textbausteine beizusteuern, die die Produzenten dann sowohl für die Strophen als auch für die Refrains und Überleitungen nutzen.
Wie diese Arbeit genau aussieht, hat John Seabrook im "New Yorker" am Beispiel einer Session von Stargate mit Ester Dean, eine der erfolgreichsten top-liner von Hits wie "S&M" von Rihanna oder "Turn Me On" von David Guetta, aufgeschrieben. Dean hat Phrasen und Schlagworte, die sie im Fernsehen oder in Zeitschriften aufgeschnappt hat, in ihrem Handy notiert. Diese dienen ihr als Grundlage für die Texte, die sie im Studio über die Songgerippe von Stargate improvisiert. Mehr muss sie nicht vorbereiten, da sich der Text allein nach der Musik richten soll.
Was bei dieser Art des Songwriting herauskommt, sind Zeilen wie "Make 'em go oh, oh, oh/As you shoot across the sky-ey-ey" (aus Katy Perrys "Firework") oder "Come on, come on, come on/ I like it, like it" (aus Rihannas "S&M"). "Ich gehe in die Aufnahmekabine und schreie und singe und brülle", beschreibt Dean ihr Vorgehen, "manchmal sind es Worte, die meiste Zeit aber nicht. Ich schau einfach, dass ich ein gewisses Prickeln spüre, dann weiß ich: Das ist die Hookline."
Charteinstieg auf Platz 4
"Eine [einzige] Hookline reicht nicht mehr", erklärt Jay Brown, Vorsitzender von Jay-Zs Label Roc Nation und gleichzeitig Deans Manager, die Logik hinter der Arbeitsweise. "Du brauchst eine Hookline im Intro, eine im Teil vor dem Refrain, eine im Refrain selbst und eine in der Überleitung. Die Leute hören sich einen Song im Radio durchschnittlich sieben Sekunden an, bevor sie weiterschalten. In dieser Zeit musst du sie mit einer Hookline kriegen."
Mitunter hat die Arbeitsteilung zwischen Produzenten und top-liners skurrile Folgen. Mehrfach ist es vorgekommen, dass ein Track an mehrere top-liners verschickt wurde, die parallel einen Song erarbeiteten und ihn, ohne voneinander zu wissen, veröffentlichten. So haben zum Beispiel Beyoncés "Halo" und Kelly Clarksons "Already Gone" dieselbe Songgrundlage, ähnliches ist bei Leona Lewis' "Collide" und Aviciis "Fade Into Darkness" passiert.
Jenseits solcher Missgeschicke sorgt diese Spielart des Maximal-Pop aber vor allem für eins: Hits. Für 2011 zählt das "Billboard"-Magazin allein für Dr. Luke 19 Chartplatzierungen in den offiziellen Hot 100 der USA auf, für Max Martin 18 und für Stargate 10. So erklärt sich auch, warum Skrillex in den USA solch großen Erfolg hat: Seine Musik hat strukturell mehr mit Rihannas ausgeklügeltem Pop als mit James Blakes auteur-haft komponiertem Dubstep gemeinsam. Gleiches gilt für Passion Pit: Am Mittwoch vermeldete "Billboard", dass "Gossamer" auf Platz 4 der Albumcharts eingestiegen ist.
Ob aus dem Elektro-Pop, dem Dance-Pop oder dem Dubstep kommend: Maximal-Pop ist zu einem der prägenden Musiktrends des jungen Jahrzehnts geworden.