
Peter Gabriel in Berlin: Rundum glücklich
Peter Gabriel in Berlin Mit dem Vorschlaghammer für Menschenrechte
Es gibt nicht viele Alben der jüngeren Musik-Geschichte, die in sich Gesamtkunstwerke sind. "Thriller" von Michael Jackson gehört vielleicht dazu, "Brothers in Arms" von den Dire Straits, "Kind of Blue" des Jazz-Trompeters Miles Davis oder "Exile on Main St." von den Rolling Stones. Ansonsten ist es üblich, dass sich bei Künstlern zwei, drei starke Songs auf den Alben finden, der Rest ist Beiwerk - Trallala, um die Platte voll zu machen.
"So", das 1986 erschienene Werk des Ex-Genesis-Frontman Peter Gabriel, gehört sicher in Kategorie Nummer eins. Hier ist jeder Song zwingend, die Aneinanderreihung der Lieder ergibt eine organische Einheit, ausgefeilt, originell, zeitlos.
Insofern war es kein Wunder, dass Gabriels jüngste Deutschland-Tour damit warb, dass im Rahmen des Konzerts auch das Original-Album "So" mit Original-Besetzung wieder aufgeführt werden würde. Die alte "Back to Front"-Tour sozusagen - ein programmierter Kassenerfolg mit endlosen Vorbildern von Miles Davis bis Public Enemy. Für Peter Gabriel bogen sich die Veranstalter so etwas wie ein 25-jähriges Album-Jubiläum zurecht, obwohl die Veröffentlichung von "So" schon 27 Jahre her ist.
Akustisches zur Vorspeise
Was man auch sah. Rundlich ist Gabriel über die Jahre geworden, mit seinem wuchtigen und kahlen Schädel sieht er inzwischen ein wenig wie eine Kreuzung aus Michail Gorbatschow und dem Moderator Jörg Thadeusz aus. In Stuttgart gastierte der 63-jährige Brite bereits, in Leipzig und in Hamburg. Gestern nun spielte der Wegbereiter des Progressive-Rock und der World-Music sein vorerst letztes Deutschland-Konzert vor 13.000 Menschen in der ausverkauften O2-World in Berlin. Die wollten einfach noch einmal den Helden ihrer Jugend begegnen, dem "King of Parliament", wie Gabriel seinen Bassisten Tony Levin vorstellte, dem Schlagzeuger Manu Katché, dem Keyboarder David Sancious und Gitarrist David Rhodes.
Gabriel erklärte seinen Jüngern, wie der Abend verlaufen würde. Nämlich wie ein gesetztes Essen. Die Vorspeise würden ein paar akustische Songs sein, "O But", zum Beispiel der Opener, eine noch unfertige Ballade, bei der er sich selbst am Piano begleitete und Levin den elektrischen Bass zupfte. Es sollte eine Stimmung erzeugt werden wie beim Gastgeber, der in den Keller verschwindet und suchend vor dem Weinregal steht. Auch "Come Talk To Me" fiel noch in die Phase "Vorspeise". Das Saallicht blieb an, es sollte wohl so etwas wie Werkstatt-Atmosphäre erzeugen, doch letztlich wirkte es so, als fände nur jemand den Aus-Schalter nicht.
Dann würde der Hauptgang folgen, der elektronische Teil. In ihn fielen die meisten Hits, die Gabriel nach seinem Genesis-Ausstieg landete. "Shock the Monkey" von 1982, erst bei "Family Snapshop" ging das Saallicht aus, die ausgefeilte Licht- und Video-Show beginnt, für die Gabriel ebenso berühmt ist wie für seine Musik. Scheinwerferkräne, die von Bühnenarbeitern in schwarzen Overalls umhergefahren werden, kreisen um die Musiker, leuchten sie aus, heben und senken sich, erzeugen aber auch manchmal durch die Lichtkegel eine seltsame "Kraft durch Freude"-Ästhetik.
Einmalig unter Hunderten
Bei "Digging In The Dirt" flackern die Videoleinwände links und rechts neben der Bühne in Schwarzweiß, was ein wenig so aussieht wie rauschendes, verwackeltes und verzerrtes Westfernsehen, das früher im Osten empfangen wurde. Aber bei Gabriel geht so was als Video-Installation durch. Es folgen die Hits "Secret World", "No Self Control" und natürlich "Solsbury Hill" - der Hauptgang ist üppig, und für jene, die dann noch nicht satt wären, gäbe es "So" in Gesamtlänge. Als Dessert sozusagen.
Wenn man besonders kritisch wäre, könnte man einwenden, dass die Darbietung eine kleine Mogelpackung war. Bei der Ballade "Don't Give Up", die im Original im Duett mit Kate Bush eingespielt wurde, sprang die junge Schwedin Jennie Abrahamson ein. Beim Welt-Hit "Sledgehammer" kamen die Bläser-Sätze aus dem Computer. Im Original waren es noch die treibenden Instrumente der Memphis Horns, immerhin ist der Song eine Hommage an die Schlagkraft schwarzer, amerikanischer Soulmusik - da ist ein Computer-Sample nur die zweitbeste Lösung. Schließlich bot Gabriel auch das Lied "This is the Picture (Excellent Birds)" dar, eine Fassung, die sich beim Original-Album gar nicht findet, sondern nur auf der 2002 erschienen re-masterten CD-Variante.
Aber man will ja nicht kleinlich sein, schließlich sind weder die Musik noch die Musiker in all den Jahren behäbig geworden. Nach wie vor überzeugt Gabriel mit seiner einfühlsamen und eindringlichen, leicht kratzigen und zerbrechlichen Stimme. Sie hat in den letzten Jahrzehnten nichts an Glanz eingebüßt. Immer noch ist es eine Stimme, die man unter Hunderten als Unikum heraushören würde - eine Instanz in einer unüberschaubaren Entertainment-Industrie. Die Band ist absolut auf der Höhe, kraftvoll treibt sie den Sänger an, die Arrangements sitzen, da ist nichts abgestanden und welk.
Die Avantgarde schaut zurück
Und das Publikum feierte den Alt-Star - im Rahmen der Möglichkeiten freilich. Gabriels Musik ist keine klassische Tanzmusik, da müssen das Wippen und das schunkelnde Mitklatschen über den Köpfen genügen. Gabriel hat sich nach seinem Ausscheiden bei Genesis zeitlebens gewehrt, einer Reunion zuzustimmen. Das Kapitel sei abgeschlossen, er sei Konzept-Künstler und Avantgarde, da schaue man nicht zurück. Eine Argumentation, die so lange glaubhaft war, wie er auf Reminiszenzen an sich selbst verzichtete. Mit der Aufführung von "So" im Jahre 2013 dürfte das obsolet sein.
Als letzte Konsequenz muss nun eigentlich eine große Genesis-in-Originalbesetzung-Tour kommen. Zumal Gabriel sogar "Biko" als Zugabe sang. Er hat das Lied nach dem Ende des Apartheid-Regimes ewig nicht mehr gesungen. Steven Biko, der Anti-Apartheid-Held, der im südafrikanischen Gefängnis elend umkam und dem Gabriel 1980 den gleichnamigen Song widmete, war am Ende das Testimonial für ein flammendes Plädoyer auf Deutsch für "das Wunderding Smartphone".
Gabriel, der große Menschenrechtler, der Aktivist bei Amnesty International, würdigte diese Erfindung, die doch dafür sorge, dass sich die Menschheit auf der ganzen Welt verbinden könne, dass Unterdrückung und Unrecht durch Regierungen nicht mehr unerkannt blieben, dass man den Aufstand gegen ein Regime nicht zwangsläufig mit dem Leben bezahlen müsse wie einst Biko. Jetzt reckt Gabriel noch einmal die Faust in die Luft und ruft: "Ich singe - der Rest liegt an euch." Nun entdecken auch die Massen die Revoluzzer-Seite an sich. Tausende Fäuste gehen in die Höhe, das "Oh-Oh-Oh" aus dem Song hallt noch nach, als Gabriel die Bühne längst verlassen hat.