Roots-Drummer Questlove sucht nach seinem liebsten Album von Kool & the Gang
Foto: Eilon PazVernünftige Menschen lassen die Finger von Schallplatten. Die Scheiben können nicht beim Joggen gehört werden, nehmen im Regal viel Platz weg, knistern, sind nicht billig und machen in großer Zahl den Umzug zum Höllentrip. Schallplatten scheinen nicht zu passen in unser durchdigitalisiertes Jahrtausend, in dem noch die obskurste Musik nur einen Klick entfernt ist.
Dummerweise geht es bei Schallplatten nicht um Vernunft, sondern um Leidenschaft. Das gilt erst recht in diesem Jahrtausend, in dem Tonträger so endgültig von der Zeit überholt zu sein scheinen.
Dass Schallplatten und die Läden, die sie verkaufen, doch noch en vogue sind, das belegte zuletzt der Hollywood-Knaller "Mission Impossible: Rogue Nation". Da spaziert Tom Cruise in einen Londoner Plattenladen, der vollgepackt ist mit Jazz-Tonträgern aus Vinyl. Das Geschäft sieht so aus, wie Trendforscher sich einen hippen Ort vorstellen. Dort fachsimpelt Cruise mit einer Fachverkäuferin über Jazz, bevor die Fetzen fliegen.
Dieser Hollywood-Vinyl-Scoop illustriert, dass die Renaissance der Schallplatten längst kein Mikrotrend mehr ist. Immer mehr Neuerscheinungen werden wieder auf Vinyl veröffentlicht. Das Spektrum reicht von japanischem Atonallärm bis zum Helene-Fischer-Weihnachtsalbum, das als Vier-LP-Set angeboten wird. Dazu kommt eine wahre Flut an neuaufgelegten Oldies, die bevorzugt als "limitierte" Boxen für solvente Altfans aufgerüscht werden.
Der Vinyl-Wirbel macht zwar immer noch nur einen überschaubaren Teil der Tonträgerumsätze aus (in Deutschland derzeit 3,1 Prozent am Gesamtmarkt), der aber substanziell genug ist, dass auch die Elektro-Kaufhäuser wieder große Vinyl-Abteilungen eingeführt haben. Auch Klamottenläden bieten eine Auswahl an Schallplatten an. Nur konsequent, dass die schwarzen Scheiben nun in Deutschland wieder eigene Charts haben, fortan jeden Monat neu.
Passend zum Vinylrausch, der gerade mit einer Plattenladenwoche zelebriert wird, sind einige Bücher zum Thema erschienen. So wie "Dust & Grooves", ein Bildband fast so schwer wie ein Umzugskarton mit Schallplatten. Es ist eine Weltreise zu Vinylsammlern der besonders verrückten Art. Der in New York lebende Fotograf Eilon Paz legt im Vorwort Wert darauf, dass er, bei aller Sympathie, keiner dieser Besessenen sei. Vielleicht verhalf ihm diese gesunde Distanz zu einem klaren Blick auf die exotische Welt der Plattensammler.
Der Autor besuchte auf seiner fünf Jahre währenden Reise prominente Vinyljäger wie den britischen DJ Gilles Peterson oder den US-Musiker King Britt. Er schaute bei Plattenladenbetreibern, Musikern und Privatsammlern vorbei. Egal ob sie nun Hip-Hop-Schätze horten oder Country-Klassiker, ob sie mit Schellackplatten oder Singles ihre Regale füllen: Die Menschen, die Paz vor die Kamera lockte, verbindet eine sanfte Euphorie, ein diffuses Glücksgefühl, das Sammler von Miniatureisenbahnen vermutlich ebenso kennen. Die Freude, die sich einstellt, wenn man eine Platte in der Hand hält, der man ewig nachjagte oder mit der man eine schöne Geschichte verbindet.
Zu Paz' Bildern passen die Gespräche, die er mit einigen Sammlern führte. So berichtet der Musiker Kieran Hebden (Four Tet) von den tollen Platten, die er in New York schon auf der Straße fand. Zum Beispiel war da dieses alte Ehepaar, das regelmäßig kostbare alte Klassikplatten vor die Tür stellte und sich auch nach Hebdens Hinweis, welche Kostbarkeiten sie da entsorgten, nicht davon abbringen ließen.
Es gelang Paz sogar, einige weibliche Sammlerinnen aufzutun, was in dieser von männlichen Nerds dominierten Welt schon fast ein Scoop ist. So berichtet die New Yorker Vinylliebhaberin Sheila Burgel von ihrer beeindruckenden Girl-Group-Kollektion und beklagt verlorene Sammlungen, die der Wirbelsturm Katrina vernichtete.
Auch der Hamburger Fotograf Bernd Jonkmanns war für sein Buch "Record Stores" einige Jahre rund um die Welt unterwegs. Er reiste nach Reykjavik, London, Tokio, Stockholm, Rio De Janeiro, New York, Los Angeles, Sydney, Bochum und porträtierte dort die Läden, in denen Plattensammler ihre Sehnsucht stillen.
Er zeigt Ladenbetreiber und Stammkunden, mit Tonträgern zugestopfte Hallen und winzige Kaschemmen. Auch bei Jonkmanns wird die Leidenschaft deutlich, die all die vom Vinyl Infizierten miteinander verbindet. Denn klar ist auch: Wer mit Platten handelt, weiß auch, dass er womöglich mit wenig Geld auskommen muss. Jonkmanns zelebriert mit seinen Bildern, aller Hypes zum Trotz, auch eine vom Untergang bedrohte Welt, denn manche der Läden in seinem Buch sind bereits Geschichte.
Das Duo Nicolas Christitch und Katrin Vierkant war nicht so lange unterwegs. Ihre Reise führte sie nur von Paris in die Hansestadt Hamburg, wo sie 26 unabhängige Plattenläden für ihr feines Buch "Recorded" besuchten. Denn Hamburg hat, man mag es kaum glauben, eine erstaunliche Dichte an Plattenläden. Insbesondere an kleinen Vinylbiotopen, deren Zauber die beiden Autoren in ihrem Buch festhalten. Auch "Recorded" ist eine Hommage an die kleinen Läden, die sich wie das Gallische Dorf in den Asterix-Comics gegen die digitale Übermacht stemmen.
Ein spannendes Sammelsurium von Geschichten rund ums Vinyl hat der Herausgeber Jörn Morisse in dem für November angekündigten Band "Plattenkisten. Exkursionen in die Vinylkultur" zusammengestellt. Illustriert mit Fotos von Felix Gebhard, lässt er Antiquare und Presswerkbetreiber, DJs und Wissenschaftler zu Wort kommen.
Sie mögen Erklärungen haben. Dennoch sollten vernünftige Menschen die Finger von diesen Büchern lassen: Sie sind schwer und sperrig und nicht umsonst. Aber wie gesagt: Um Vernunft geht es hier nicht.
Bernd Jonkmanns (Hrsg./Fotos):
Record Stores
A tribute to record stores.
Verlag seltmann+söhne; English; 384 Seiten; 49 Euro
Buch bei Amazon: "Record Stores" von Bernd JonkmannsEilon Paz:
Dust & Grooves
Plattensammler und ihre Heiligtümer.
Verlag Eden Books; 448 Seiten; 49,95 Euro
Buch bei Amazon: "Dust & Grooves" von Eilon PazNicolas Christitch (Autor)/Katrin Vierkant (Fotos):
Recorded
Live in Hamburgs Plattenläden.
Verlag Junius Hamburg; 240 Seiten; 29,90 Euro
Buch bei Amazon: "Recorded" von Nicolas ChristitichJörn Morisse/Felix Gebhard:
Plattenkisten
Exkursionen in die Vinylkultur.
Ventil Verlag; 176 Seiten; 24 Euro
Buch bei Amazon: "Plattenkisten" von Jörn Morisse/Felix GebhardSPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Der Band "Plattenkisten - Exkursionen in die Vinylkultur" von Jörn Morisse und Felix Gebhard lässt 16 Protagonisten rund um den neuen Vinyl-Boom zu Wort kommen.
Die ganze Verwertungskette des Vinyls lässt sich so nachvollziehen - vom Presswerk über das Label und den Laden zum Konsumenten - und wieder zurück zum Second-Hand-Laden.
Prominente Namen sind unter den Befragten: Thurston Moore von Sonic Youth ebenso wie der Institutsleiter und DJ Hans Nieswandt.
Es geht ums Mastern, ums Auflegen, ums Archivieren.
Das Buch erscheint im November im Ventil Verlag, Mainz.
Questlove, der legendäre Schlagzeuger der Roots, in seinem Studio in Philadelphia. Fotografiert hat ihn Elion Paz für seinen Bildband "Dust and Grooves" über Plattensammler aus aller Welt.
In Reih und Glied: Joe Bussard aus Maryland sammelt rare Shellackplatten.
Die Menschen, die Paz vor die Kamera lockte, verbindet eine sanfte Euphorie, ein diffuses Glücksgefühl: Die Freude die sich einstellt, wenn man eine Platte in der Hand hält, der man ewig nachjagte oder mit der einen eine schöne Geschichte verbindet.
Hier freut sich Philip Osei Kojo aus Ghana darüber, nach 30 Jahren seine Platten wieder zu hören - der Plattenspieler war kaputt.
Bild mit Seltenheitswert: Viele der Porträtierten (und wohl auch die Mehrzahl der Plattensammler) sind Männer. Doch Elion Paz fotografierte auch Sheila Burgel aus New York und ihre fantastische Girl-Group-Sammlung.
"Record Stores" heißt der Bildband, für den der Hamburger Fotograf Bernd Jonkmanns um die Welt gereist ist und Plattenläden fotografiert hat. Im Bild der Jinbochyo Chiyoda-Ku Record-Shya, der älteste Plattenladen Tokios - es gibt ihn seit 1932.
Der ursprüngliche Antrieb für das Projekt war für Jonkmanns 2009 die Sorge, dass Plattenläden wie der Shinjuku Disk Union Club Music Shop in Tokio eine aussterbende Spezies seien.
Kassierer bei Disk Union in Shibuya: Inzwischen hat sich weltweit ein Boom rund um das Vinyl entwickelt.
Ebenfalls in Tokios Shoppingviertel Shibuya gelegen: der Laden Manhattan Records.
Für Schallplatten bitte in den ersten Stock: Im Stadtteil Shimokitazawa hat Bernd Jonkmanns die Flash Disc Ranch aufgetan.
Deko-Detail bei Concerto in Amsterdam: Der Laden handelt seit 60 Jahren an derselben Adresse in der Utrechtsestraat mit Tonträgern.
Volles Haus zum Record Store Day: Bei Freiheit & Roosen in Hamburg-St. Pauli gibt es auch an anderen Tagen eine große Vinylauswahl.
Kind des Vinyl-Comebacks: Den Laden Good Records im East Village von New York gibt es erst seit 2005. Er hat sich auf Vintage Vinyl spezialisiert.
Oscar arbeitet bei Planet Records am Harvard Square in Cambridge, Massachusetts. Planet hat in den vergangenen 30 Jahren nach eigener Aussage "Feuer, Überflutung, die selbst herbeigeführte Implosion der Musikindustrie und zwei Umzüge" überlebt.
Billy Idol wacht übers Bossanova-Fach: Hymie's Vintage Records in Minneapolis betreibt auch ein empfehlenswertes Blog.
Hier herrscht Ordnung: Bei der Vintage Music Company in Minneapolis hält man LPs oder auf 45 rpm abspielbare Singles für neumodischen Kram - hier gibt's nur Shellackplatten.
An- und Verkauf: Bei Metavinyl im kalifornischen Santa Cruz wird seit 2006 mit Schallplatten gehandelt.
Ein moderner Klassiker unter den Schallplattenläden ist Amoeba Music in San Francisco.
Entspanntes Anhören: Bei 12 Tonar in Reykjavik gibt es Kaffee oder Tee umsonst.
Lokalpatriotisches Sortiment: Der Hamburger Plattenladen Hanseplatte ist spezialisiert auf Veröffentlichungen örtlicher Musiker und Labels.
Kreatives Chaos: Bei Freiheit & Roosen lauert in jeder Ecke eine Überraschung.
Inspiration: Über den Plattenladen Back Records und seinen Betreiber Stefan Calabretta schrieb die schwedische Band Friska Viljor den Song "Wohlwillstrasse".
Spezialist für Elektronisches: Der Laden Otaku ist inzwischen umgezogen nach St. Pauli.
Label, Treffpunkt, Laden: Dial Records ist einer der angesehensten Läden für Minimal-House - eigene und verwandte Platten gibt es im Laden in Hamburg.
Melden Sie sich an und diskutieren Sie mit
Anmelden