Dub-Musik aus Berlin Der neu entdeckte Sound einer leeren Stadt

Der Berliner Musiker Pole erfand Ende der Neunziger einen urbanen Entschleunigungs-Sound. Jetzt erscheinen seine Alben neu. Sie klingen wie die weiten Räume, die uns in der Coronakrise so fehlen.
Leere Berliner Verkehrsader in der Coronakrise (am 24. April): Erinnerungen an eine Stadt vor dem Hype

Leere Berliner Verkehrsader in der Coronakrise (am 24. April): Erinnerungen an eine Stadt vor dem Hype

Foto: Kay Nietfeld/ dpa

Der Name Pole, deutsch ausgesprochen, bezieht sich auf die Stifte eines Steckers. Dahinter steht der Rheinländer Musiker Stefan Betke, der seit den Neunzigerjahren in Berlin lebt. Sein elektronischer Knister-Sound hat Stars des britischen Dubstep beeinflusst, allen voran den Londoner Burial. Betkes Berliner Dub britzelt in den Höhen wie künstliches Kaminfeuer auf einer VHS-Kassette, dazu knackt es rhythmisch. Es herrscht eine leise Hibbeligkeit, doch dann tauchen ultratiefe Bässe auf, Effekte und Echos erinnern an die Räume von Reggae und Dancehall. Es klingt nach Gras und Club-Mate, nach Rausch und Konzentration. Eben nach Berlin in den Neunzigern.

Pole erfand vor gut 20 Jahren Musik, die von der Leere träumt. Wie in jedem Traum (und auf manchem Trip) wird die Frage, ob das auch angenehm oder nur bedrohlich sei, nicht gleich entschieden. Heute trifft diese alte elektronische Musik auf gespenstische Weise die Gefühlslage der neuen Krise. Passend dazu erscheinen jetzt die ersten drei Pole-Alben mit den lapidaren Titeln "1", "2" und "3" neu. Erstmals veröffentlicht wurden sie zwischen 1998 und 2000, die Hüllen in Dunkelblau, Rot und schließlich Gelb.

Betke schuf den Soundtrack zu einer leeren Stadt, wie sie sich am Anfang der Kontaktbeschränkungen in der Corona-Bekämpfung gezeigt hat, die aber jederzeit wieder entstehen kann, sollten die Infektionszahlen nach den jüngsten Lockerungen sprunghaft ansteigen. Das wäre schrecklich, sicher, aber die Schönheit der Leere ist nicht von der Hand zu weisen. Poles Musik betont den Raum, der unserem begrenzten Radius nun fehlt.

In den Neunzigerjahren gab es in jedem Klub einen Chill-Out-Raum: weniger Lautstärke, kaum Beats. Kein Tresen lud zum lauten Quatschen ein. "Diese ruhigen Räume", sagt Stefan Betke im Interview am Telefon,  "verschwanden ungefähr zu jener Zeit, als meine Serie mit Pole begann." Als die Mieten oder auch nur die finanziellen Bedürfnisse der Betreiber stiegen, waren Räume mit liegenden und wenig konsumierenden Menschen nicht wirtschaftlich genug. Stattdessen: noch ein Dancefloor, noch eine Bar.

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Der Lockdown light, wie wir ihn aktuell ertragen, erinnert also an eine Stadt, die noch nicht ganz so tief im Spätkapitalismus steckte wie die Welt bis kurz vor Corona. "Wir gingen oft unter der Woche in Klubs, und nicht immer zum Tanzen, sondern um Musik zu hören, darüber zu reden, das neue Ding zu verstehen", sagt Betke. Am Wochenende tanzten bald vor allem die Touristen, die maßgeblich zum Berlin-Boom jener Zeit beigetragen haben. Junge Touristen reisten damals mit dem Zug nach Berlin, Billigflieger gab es noch nicht. Eine Stadt aus dem letzten Jahrhundert: kein Easyjet, kein Berghain. Noch nicht einmal der Reichstag war bezugsbereit.

"In Berlin hörten alle Reggae und Dub."

Stefan Betke

Aber was führte in den Neunzigern zu dieser Berliner Welle elektronischer, von Techno beeinflusster Musik, die Hektik ablehnte und Bummel-Räume entwarf? Pole war kein Einzelgänger damals, Berliner Dub war eine Marke. Rhythm and Sound oder Maurizio hießen die Labels, Moritz von Oswald, Mark Ernestus oder das Duo Monolake die Musiker. Und natürlich gab es Stefan Betke alias Pole. Sie alle kreisten um den Plattenladen Hardwax und die Vinylschmiede Dubplates & Mastering in Kreuzberg. Betke kam aus Köln nach Berlin und staunte: "Ich hatte schon 2000 Hip-Hop-Platten zu Hause und war inzwischen auf Techno, aber in Berlin hörten alle Reggae und Dub."

Reggae und seine Dub genannte Kultur des instrumentalen, echogetränkten Remixens kommen oft ins Spiel, wenn ein (musikalischer) Epochenbruch verschmerzt werden muss. Im Londoner Punk am Ende der Siebzigerjahre heilte Dub ein paar vom Zeitgeist geschlagene Wunden. Doch im Dub schwingt auch Widerständiges mit - gegen den (Post-)Kolonialismus, die Polizei, die Ganglords. Oder gegen das Hamsterrad des Techno-Geschäftes, das in Berlin heftig an Fahrt aufnahm. "Ja, es ging auch um eine Abkehr vom Business", sagt Betke. Dub vollzieht stets einen Rückzug vor der Leistungsethik. Die Wiederholungen, der hypnotische Drift ohne Eile, Genuss einzelner Klänge statt technoider Euphoriepeitsche: Dub lässt sich nicht optimieren.

Es gibt noch ein anderen Grund für den großzügigen Raum in der Musik von Pole. Leerer war Berlin ja nicht nur, weil weniger Leute in Airbnb-Apartments schliefen und es mehr erschwinglichen Wohn- und Atelierraum gab. "In Berlin-Mitte stolperte man aus einer Seitenstraße auf die Oranienburger und schaute in Richtung des halb verfallenen Kunsthauses Tacheles, daneben ein riesiger leerer Platz", erinnert sich Betke. "Das kannte ich nicht aus dem Rheinland, die lückenhafte Architektur der Stadt hat meine Musik stark beeinflusst."

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Pole

123 (Ltd.ed.) (3cd)

Label: MUTE RECORDS
ca. 22,94 €

Preisabfragezeitpunkt

06.06.2023 03.04 Uhr

Keine Gewähr

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Die meisten Brachen und Leerstellen in der Stadt sind heute verschwunden oder geschlossen, die Klubs mittlerweile auch. Es wird lange dauern, bis sie ihren Betrieb wieder aufnehmen können. Wenn der physische Raum fehlt, wird die Kunst ihn anders darstellen müssen, das heißt: räumlicher. Trotz der tollen digitalen Mittel, die dem Musikkonsum heute zur Verfügung stehen, ist der Raum aus der Musik fast verschwunden. Auf Spotify zählt Lautstärke, nicht räumliche Differenzierung, und die allgegenwärtigen Ohrstöpsel verstärken diesen Trend noch einmal. Betke, sagt: "Der Kopfhörer kann nicht gut Räumlichkeiten abbilden, deshalb ist die Musik heute derart laut abgemischt: um den fehlenden Raum zu kaschieren."

Nach dieser Krise, wenn auch kuscheligere Formen der Versammlung wieder möglich sind, werden wir Räume wohl wieder sensibler wahrnehmen. Das tun wir im Freien schon jetzt, wenn wir um uns herumtrippeln, um den Tanz der Distanz aufzuführen. Täuscht der Eindruck oder sieht man bereits jetzt weniger Leute mit Kopfhörer beim Sport auf den Hauptverkehrsadern der öffentlichen Parks? Das Ohr misst den Raum mit ab, den wir öffentlich gerade neu beschreiten. Die räumliche Wahrnehmung lässt sich aber auch mit den drei alten Platten von Pole neu trainieren. Im Gegensatz zum Sport tut das auch gar nicht weh.

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