Pop-Festival in Montreal Kanadische Schönheiten

Kanada ist das gelobte Land der alternativen Rock- und Popmusik: Nach Arcade Fire, Patrick Watson und Malajube setzt bereits die nächste Künstlergeneration zum Sprung ins Rampenlicht an. Jan Wigger fuhr zum Indie-Festival "M is for Montreal" und erlebte sein musikalisches Wunder.

Geahnt hatte man es irgendwie schon immer, doch der Beweis musste erst noch angetreten werden: Montreal ist die schönste Stadt des neuen Jahrtausends. Nur hier, im eindrucksvollen Eishockey-Tempel Centre Bell, erleiden die Montreal Canadiens um den genialen Finnen Saku Koivu unglückliche Niederlagen, nur hier reicht die Temperaturspanne von minus 40 bis plus 40 Grad, und nur hier sehen die märchenhaften, von leuchtenden Ahornbäumen gesäumten Seitenstraßen und Gassen aus wie ein penibel symmetrischer Architektentraum.

In Montreal kann man Leonard Cohen dabei beobachten, wie er im stets überfüllten American Diner "Beauty" zu Mittag ist. Man kann mit der flamboyanten gebürtigen Montrealerin Melissa auf der Maur (Hole, Smashing Pumpkins) in schwächlich beleuchteten Hotelzimmern die halbe Nacht lang über David Lynch reden oder zum Queen Elizabeth Hotel gehen, in dem John Lennon und Yoko Ono 1969 ihr berühmtes Bed-In absolvierten.

Die wichtigste Erkenntnis: Man kann hier auch dann überleben, wenn man kein Französisch spricht und Blumenbeete nicht ausstehen kann. Von den Künstlern dieser goldenen Stadt ganz zu schweigen: Das Musikerkollektiv Arcade Fire ist Montreals ganzer Stolz, Rufus Wainwright lebte lange Zeit in der 3,2-Millionen-Stadt, und auch der Ruhm von Künstlern und Bands wie Patrick Watson, Malajube, Stars und The Dears reicht weit über die Landesgrenzen hinaus.

Nur etwa zwei Wochen nach "Pop Montreal", dem anderen renommierten Festival der Stadt, betreten bei der zweitägigen Veranstaltung "M For Montreal" etwas weniger bekannte Künstler der kanadischen Metropole die Bühnen der nur durch eine einfache Zwischentür verbundenen Clubräume "Cabaret" und "Studio" des "Just For Laughs"-Gebäudes im Herzen der Großstadt. Während die Band Priestess scheinbar unironisch schweinerockt und Plants And Animals Bluegrass mit Seventies-Guitar-Rock und orchestralem Jeff-Buckley-Sentiment mischen, spielen Torngat  erstaunlich groovige, von Tortoise inspirierte Instrumentalmusik mit Bläsern: Ein bisschen wie Beirut oder Robert Wyatt ohne Gesang. Bloodshot Bill ist ein eher armseliger Elvis-Impersonator, Thunderheist dagegen digitale Scharfschützen des Elektro-HipHop, mit großartiger Rapperin.

Prolligen Elektro-Pop mit höchstwahrscheinlich albernen Begleittexten gibt es vom sonnenbebrillten Gangster-Duo Numéro. Creature, ziemlich exakt zwischen Talking Heads, B-52's und den Scissor Sisters oszillierend, lassen im "Studio" dann noch einmal die rote Sonne aufgehen. Und ganz kurz bevor The Stills auftreten, gelingt der komplett aus der Zeit gefallenen Gruppe Elsiane  ein Auftritt, bei dem ganz ohne Vorwarnung die Zeiger der Armbanduhr einfrieren: Auf den Punkt gespielter, schleppend schöner Goth-Pop mit offensichtlich verrückter Sängerin, aber so idiosynkratisch und samten, wie früher nur die Cocteau Twins oder Cranes geklungen haben.

Den mit 5000 kanadischen Dollar und einer Gratis-Europa-Tournee dotierten M-Galaxie Prize gewinnt am Ende das postmoderne Dance-Dauerfeuer We Are Wolves  mit Berserkernaturell, Pappkarton-Totenköpfen und brenzliger New-Wave-Atittüde. Das Konzept, auf zwei Bühnen jede Band genau dreißig Minuten spielen zu lassen, klingt nur auf den ersten Blick nach Eurovision Song Contest und SWR3-Festival in Kaiserslautern: In Wirklichkeit bekommen "normale" Besucher sowie nationale und internationale Delegierte in kürzester Zeit die Gelegenheit, sich einen Überblick über die lokale, zuweilen inzestuös verschlungene Musikszene zu verschaffen.

Einzige Regel: Alle auftretenden Künstler müssen aus Montreal stammen. Zwischen den beiden Festivaltagen, an denen sich die Musikjournalisten die Zeit in Weinläden und Museen vertreiben, ereignet sich dann die eigentliche, nur von wenigen Augenpaaren verfolgte Sensation der Veranstaltung: Während der dreistündigen Kneipenzusammenkunft "M for Martini" (hinter der ursprünglich die Idee stecken könnte, die Musikschreiber betrunken und gefügig zu machen) in der "Jello Bar" mit Spielautomat und lila Plüschsesseln legt die unwahrscheinlich hübsche Klavierspielerin Caroline Keating  mit ihrer delikaten Musik Zeugnis eines unglaublichen Talents ab, das an aktuelle Indie-Heroinen wie Joanna Newsom oder Regina Spektor erinnert.

Über Kate Bush, so Caroline am nächsten Morgen beim Frühstück, habe sie dank zartem Alter höchstens einmal etwas gelesen, aber noch keinen Ton gehört. Und das, obwohl ihr Song "Ghosts" so bestechend und unverfälscht klingt wie Kates Teenager-Geniestreich "The Man With The Child In His Eyes". Falls die Plattenfirmenverantwortlichen noch Interesse an guter Musik haben, sollte dieser Studentin der Kunstgeschichte, die im Neo-Hippie Sufjan Stevens einen Engel der Neuzeit sieht und bereits Stücke über Joseph Beuys und seine Kaninchen schreibt, bald weltweiter Ruhm beschieden sein.

Und als die paar Tage plötzlich viel zu schnell zu Ende gehen, schmeckt auch der Martini nicht mehr. Wieder einmal möchte man raus aus Deutschland und viel lieber eine Wohnung in der Avenue Laurier E mieten, der Musical-Straße mit dem Park, den Eichhörnchen und dem wunderbaren Schwingen in der Luft. Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute, wir kommen wieder.

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