
Festival: Es lebe der Pop
Musikfestival im Berghain Im Pop-Labor
Wenn vieles fehlt, heißt das nicht automatisch, dass Wünsche offenbleiben. Bei der Premiere des "Pop-Kultur"-Festivals, das sich von Mittwoch bis Freitag vergangener Woche im und um den Berliner Techno-Klub Berghain abspielte, fehlten zum Beispiel die grell leuchtenden Smartphone- und Kamera-Displays, die ansonsten jeden Konzertbesuch illuminieren und Künstler-Auftritte zur Instant-Konserve degradieren. Aber im Berghain ist Fotografieren nun einmal verboten.
Zwar hatte der sich traditionell elitär und ominös gebende Techno-Klub im ehemaligen Heizkraftwerk am Ostbahnhof erstmals seine bei Klubgängern hart umkämpfte Tür für eine mehrtägige Veranstaltungsreihe geöffnet und dafür auch gleich noch die große, bisher weitgehend ungenutzte Halle hinter dem Klub sowie Kantine, Panorama-Bar und Garten zur Verfügung gestellt; ein paar eherne Berghain-Regeln blieben aber in Kraft.
So wurden jedem Besucher vor dem Eintritt in ein Konzert im Klub Kameras abgenommen und Handy-Linsen verklebt, so entstand eine wundersam prä-digitale, angenehm altmodische Festivalstimmung: Plötzlich konzentrierten sich alle wieder einmal wirklich auf das, was vorne auf der Bühne geschah.
Auch "Victoria" ist dabei
So kam es zu einigen sehr schönen, fast andächtigen Momenten, die mehr als wettmachten, dass der Premiere der "Pop-Kultur" noch etwas anderes fehlte: große internationale Stars. Denn spätestens, als am späten Mittwochabend der Kino-Regisseur Sebastian Schipper andächtig auf der Bühne der großen Berghain-Halle, einem alten, hochragenden Industriegewölbe, stand und sich ergriffen noch einmal das Ende seines eigenen Films "Victoria" mit alternativen Musik-Soundtrack ansah, war klar, dass die Rechnung der Veranstalter aufgegangen war: Künstler und Publikum rückten eng zusammen, während sich Bühnenkunst, Musik und Film interdisziplinär verschränkten.
Auf ähnliche Art berührbar machte sich am Donnerstag auch die Berliner Sängerin Balbina, die sich dazu bereit erklärte hatte, ihre ansonsten mit exaltiertem Gesang vorgetragenen Texte in reiner Gedichtform vorzutragen. Die halbstündige Lesung in der Berghain-Garderobe war so intim, dass sich zunächst niemand traute, Beifall zu klatschen, um den Zauber nicht zu trüben.

Sophie Hunger: Große Kunst aus der Schweiz
Foto: Votos/ Roland OwsnitzkiUmso lauter und ungestümer war die US-amerikanische Hardcore-Band Ho99o9 (sprich: Horror), die am Freitag im Berghain ihr allererstes Deutschland-Konzert absolvierte: Begleitet von einem weißen Schlagzeuger und einer nervenzerrenden Industrial-Noise-Kaskade aus dem Sequenzer, erzeugten zwei durchtrainierte schwarze Shouter oder MCs auf der Bühne ein derart energetisches Unwetter aus afroamerikanischer Wut und Frustration, dass musikalische Ahnen wie N.W.A. daneben wie Chorknaben wirken würden. Es war der kathartischste und zeitgeistigste Moment des Festivals.
Neben den ausverkauften und bejubelten Auftritten der Haupt-Acts Pantha Du Prince, der am Mittwoch als Erster die große Berghain-Halle bespielen durfte, Neneh Cherry (Donnerstag) und Sophie Hunger (Freitag) waren es vor allem junge einheimische Newcomer-Bands, die in der Kantine und im Klub vor größerem Publikum spielen durften.
Darunter die verlässlich intensive Berliner Rockband Isolation Berlin, das feministisch-burleske Hamburger Duo Schnipo Schranke, das beim Konzert in der saunahaften Kantine von einem komischen Kauz mit Badetuch über den Schultern begleitet wurde, die Stuttgarter Punkband Die Nerven sowie die hochkonzentrierte Postrock-Gruppe Messer.

Neneh Cherry: Zwischen Pop und Freejazz
Foto: Pop-Kultur/ Tonje ThilesenDie größten Stars des Festivals, die britische Wave-Popband New Order, beschränkte sich darauf, an Lesungen, nachmittäglichen Workshops für Nachwuchs-Musiker und DJ-Sets teilzunehmen, statt als Gruppe mit dem soeben fertig gestellten Album "Music Complete" aufzutreten.
Sänger Bernard Sumner gefiel die entspannte "Pop-Kultur"-Atmosphäre anscheinend so gut, dass er nach seiner Talkrunde am frühen Abend noch bis in die Freitagnacht im sogenannten Diskogarten saß und mit Mute-Labelchef Daniel Miller, Fans und Journalisten plauderte. Auch die harten Burschen von Ho99o9 mischten sich noch neugierig unters Festivalvolk. Und die vier Mitglieder von Isolation Berlin blieben gleich die vollen drei Tage und waren bei fast jedem Auftritt im Publikum zu sehen.

Isolation Berlin: Verlässlich intensiv
Foto: Votos/ Roland Owsnitzki60 Künstler an drei Tagen, das ist ein bescheidener Start für ein mit öffentlichen Geldern gefördertes Pop-Festival. Doch gemessen an den Millionensummen, die alljährlich an Theater und Orchester fließen, sind die knapp 700.000 Euro, die der Berliner Senat dem Musicboard zur Ausrichtung der "Pop-Kultur" genehmigte, nicht viel. Zusammen mit Sponsorengeldern und den Erlösen durch Ticketverkäufe kam man auf eine knappe Million Euro, die dann auch restlos ausgegeben wurde.
Musicboard-Chefin Katja Lucker, die das neue Festival zusammen mit den Kuratoren Martin Hossbach und Christian Morin als Alternative zu bisherigen Musikbranchentreffs (zuletzt: Berlin Music Week) in der Hauptstadt gestaltet hat, zeigte sich am Freitag sichtlich erleichtert, dass am Ende alle Tickets ausverkauft waren. Insgesamt kamen rund 10.000 Gäste, 3500 pro Tag.
Ob die "Pop-Kultur" über die Berliner Blase hinaus Signale setzen kann, wird sich zeigen, wenn Budget und Zeitplan es im kommenden Jahr vielleicht erlauben, auch den Mainstream ins Avantgarde-Programm zu integrieren.
Warum nicht einen Robbie Williams zum Workshop einladen? Warum nicht Helene Fischer oder Revolverheld mit Elektronik-Musikern jammen oder diskutieren lassen? Ohne dass dabei eine Kommerzialisierung oder ein Ausverkauf künstlerischer Dogmen einhergeht, würde dann neben dem Feuilleton auch die Boulevard-Presse und das Fernsehen auf dieses im Entstehen begriffene Pop-Labor aufmerksam. Das wäre gut für die Künstler, aber auch für die internationale Reputation Berlins als relevanter Musikstandort.
Letztlich, so formulierte es Senatskanzlei-Chef Björn Böhning (SPD) am Eröffnungsabend, wolle man die "Berlinale der Musik" werden. Ein hochgegriffenes Ziel, doch der Vergleich ist nicht schlecht: Auch das Kino-Fest speist sich aus dem nicht immer ausgewogenen Mix aus öffentlicher und privater Finanzierung, Glamour-Appeal und Kunst-Anspruch. Bei der richtigen Mischung muss niemand Angst haben, die Pop-Kultur werde zum subventionierten Regierungs-Pop und verlöre ihren Gegenkultur-Charme.
Selbst wenn die von zahlreichen wirtschaftlichen und digitalen Umwälzungen bedrohte Pop-Kultur diese staatliche Stütze nötig haben sollte, kann man sich kaum einen besseren und sichereren Schutzraum vorstellen als das tief im Untergrund verwurzelte Berghain.
"Ihr seid Teil von etwas Neuem", formulierte Katja Lucker am Mittwoch das Credo der "Pop-Kultur", dazu gehört auch, Berührungsängste und Scheuklappen abzulegen, Welten zusammenzuführen, die sich bisher fremd waren, wenn nicht feinselig gegenüber standen.
So erhielt Bundesjustizminister Heiko Maas am Freitag, nachdem er an einer Talkrunde über Urheberrechte und Künstler-Vergütungen teilgenommen hatte, vom Berghain-Betreiber höchstpersönlich eine exklusive Tour durch die Klubräume.
Wie es heißt, haben sich der Spitzenpolitiker und der Szene-Gastronom gut verstanden und wollen sich demnächst vielleicht noch einmal treffen, um über die Gema-Reform zu sprechen.