Musiker Betterov auf dem Reeperbahn Festival »Halleluja, wie man so sagt«

Beim Festival rund um die Hamburger Reeperbahn kann man endlich wieder von Klub zu Klub hoppen und Livemusik entdecken. Die Branche diskutiert derweil beim Kongress über Krisen, Einnahmen und Geschlechtergerechtigkeit.
Musiker Betterov (M.) im Hamburger Michel mit Gästen: Zwischen Bedeutsamkeitspathos und Intimitätsnuscheln

Musiker Betterov (M.) im Hamburger Michel mit Gästen: Zwischen Bedeutsamkeitspathos und Intimitätsnuscheln

Foto: Reeperbahn Festival 2022 / Christian Hedel

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Als der Applaus durch die St.-Michaelis-Kirche hallt, blickt Manuel Bittorf demütig zu Boden. »Halleluja, wie man so sagt«, sagt der 28-Jährige ins Mikrofon, der sich als Musiker Betterov nennt. Sein Konzert in Hamburgs bekanntester Kirche, dem Michel, ist am Freitagabend eines der als Werkuraufführungen gelabelten Sonderkonzerte, die aus der Vielzahl der Shows beim Reeperbahn Festival herausstechen.

»Betterov & Friends«, das bedeutet, dass der in Berlin lebende Sänger und Songwriter mit Streichern und Blasinstrumenten auftritt, die Songs seines erst Mitte Oktober erscheinenden Albums »Olympia« vorab präsentiert und einige Gastsänger auf der Bühne begrüßt. Diese Begrüßungen fallen extrem herzlich aus. Ob es nun die Songwriterinnen Novaa und Paula Hartmann sind, der Wahl-Berliner Fil Bo Riva oder der »Hamburger Jung« Olli Schulz, der sagt, er habe mal um die Ecke in der Martin-Luther-Straße gewohnt, aber noch nie zuvor im Michel gesungen: Sie alle umarmt Betterov innig und singt je ein Lied von ihnen und ein eigenes im Duett.

Sänger Betterov: »Ausgerechnet hier geboren«

Sänger Betterov: »Ausgerechnet hier geboren«

Foto: Rebecca Kraemer / Universal Music

Die Betterov-Songs handeln sehr von der Sorge um sich selbst: »Ich schaffe das nicht allein«, heißt es in »Bring mich nach Hause«. »Erst wenn alles dunkel ist, dann bin ich da« singt er in »Angst«, und wenn Liebe da ist, fürchtet er doch: »Bleibst du noch bei mir, wenn ich nicht mehr funktionier’?«. Sie sind getragen von der auffälligen, an den jungen Morrissey erinnernden Stimme des gebürtigen Thüringers, schwankend zwischen Bedeutsamkeitspathos und Intimitätsnuscheln. »Von allen Orten auf der Welt bin ich ausgerechnet hier geboren« – das ist so eine Zeile, die typisch ist für seinen Hader mit den Umständen, mit dem Melancholiker aller Herkunftsorte mitfühlen können.

Einen gewissen Anteil an Betterovs Aufstieg kann auch das Reeperbahn Festival für sich verbuchen, wie der Sänger in einer Ansage bekennt: Die Veranstaltung, die sich als Europas größtes Klubfestival bezeichnet, gilt als Newcomerveranstaltung. »Es heißt, man würde nur einmal auf dem Reeperbahn Festival spielen«, so Betterov, »nun, dies ist mein siebtes Konzert hier«. Besonders hebt er hervor, dass 2020, als im Herbst alle Tourneen abgesagt wurden, das Reeperbahn Festival unter erschwerten Hygienebedingungen trotzdem stattgefunden habe.

Während die Austragung 2020 mit seinem Durchhaltetrotz in positiver Erinnerung geblieben sein mag, war 2021 ein Flop: Zu viele Leute wollten die zu wenigen Acts sehen, die in Klubs mit behördlich eingeschränktem Fassungsvermögen spielten – die Folge war langes, und oft vergebliches Anstehen. In diesem Jahr hingegen war jenes Hoppen von einem Klub zum nächsten wieder möglich, das den besonderen Reiz des Reeperbahn Festivals ausmacht: Man setzt sich einen Fixpunkt am Abend und lässt sich ansonsten treiben, entdeckt in einer Pinte am Hans-Albers-Platz australischen Dream-Pop von Hatchie oder im Hinterhof des Molotow einen Wiener Elektro-Grantler namens Salò. Tipps kommen von anderen Besuchern oder aus der Festival-App, in der nun eine Ampel anzeigte, wo es voll werden könnte und wo nichts mehr geht. Meistens ging noch was.

Umsonst und draußen: Kraftklub-Publikum auf der Reeperbahn

Umsonst und draußen: Kraftklub-Publikum auf der Reeperbahn

Foto: Marvin Contessi

Mit 40.000 erwarteten Besuchern, die allermeisten auch in den Klubs ohne Masken, blieb der Zuspruch noch unter den Prä-Corona-Zahlen von 2019 (52.000), aber die Straßen von St. Pauli wirkten noch deutlich belebter als sonst. Am meisten los war natürlich am frühen Mittwochabend, als die Chemnitzer Indie-Rockband Kraftklub mit einem Gratis-Überraschungskonzert die Reeperbahn lahmlegte. Sänger Kummer sprach von einem Traum, der wahr werde, seine Stargäste Casper und Bill Kaulitz gaben sich ebenfalls beeindruckt, und die Twentysomethings auf der Straße hüpften ausgelassen.

Zuvor war nebenan im Operettenhaus das Festival eröffnet worden. Natalia Klitschko rief dazu auf, andere Kulturen nicht nur in Krisenzeiten in den Blick zu nehmen, wie es gerade der ukrainischen ergehe. Die britische Sängerin Ellie Goulding rief zu gemeinsamem Handeln fürs Klima auf. Und Amy Gutmann, die neue US-Botschafterin in Deutschland, warb auf sehr amerikanische Weise für die deutsche Fassung des Musicals »Hamilton«, die in rund zwei Wochen in Hamburg Premiere feiert: Ihr wildes Beklatschen des zur Festivaleröffnung eingeladenen Ensembles wirkte im Kontrast zu ihrem Sitznachbarn, Hamburgs etwas steifem Bürgermeister Tschentscher, besonders euphorisch. Zugleich lobte sie Hamilton – Lebensgeschichte wie Musical – als Beispiel für Inklusion. Letztlich: der American Dream.

Amy Gutmann: Euphorische Gastland-Botschafterin

Amy Gutmann: Euphorische Gastland-Botschafterin

Foto: Axel Heimken / dpa

Das Reeperbahn Festival ist auch deshalb so großzügig aus Mitteln der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien finanziert, weil es neben den abendlichen Konzerten tagsüber auch einen Kongress beinhaltet, der einer der wichtigsten Treffpunkte der Musikbranche des Landes ist. Dort wurde vor allem über drei Themen diskutiert:

  • Geschlechtergerechtigkeit: Die Initiative Keychange stellte auf dem Kongress eine Marktforschungsstudie (Ergebnisse als PDF ) vor, in der auf Genderfragen aus der Perspektive von Musiknutzerinnen und -nutzern geschaut wurde. Auffällig war, dass sich bisher nur eine Minderheit Gedanken darüber macht, ob Männer und Frauen bei Musikangeboten gleichberechtigt vertreten sind. Allerdings ist das Bewusstsein bei jüngeren Befragten deutlich höher. Am stärksten wahrgenommen wird das Thema bei Festivals – wo ein Ungleichgewicht besonders sichtbar ist.

    So kann sich eine Mehrheit der Jüngeren vorstellen, ihre Kaufentscheidungen von balancierten Angeboten abhängig zu machen. Ein Punkt, den Festival-Chef Alexander Schulz gerade Streamingdiensten ans Herz legte. Schließlich könne bei inhaltlich ähnlichen Angeboten ein Faktor wie beispielsweise ausgeglichene Playlists einen Unterschied machen.

    Unter dem Titel »Das Ende vom Buddy-Business?« wurde außerdem auch die jüngst veröffentlichte Studie der MaLisa-Stiftung diskutiert, die zeigte, wie sehr gerade auf der Produktions- und Songwritingebene Männerteams noch immer dominieren. »Es fällt Männern nicht genug auf, dass sie unter sich sind«, sagte MaLisa-Referentin Anna Groß. Und Francis Gay, Musikchef des WDR-Senders Cosmo, stellte als Best Practice die geschlechterausgewogene Musikauswahl seines Programms vor: Sie sei inhaltlich überhaupt kein Problem. Auch das Reeperbahn Festival hat sich der Keychange-Selbstverpflichtung angeschlossen – wobei bereits eine Frau oder nicht-binäre Person auf der Bühne reicht, um für die Quote zu zählen.

  • Streaming-Erlöse: Während der Bundesverband Musikindustrie, in dem die Labels organisiert sind, die wachsenden Umsätze dank den Streamingdiensten bejubelt, klagen die Musikerinnen und Musiker, dass bei ihnen von diesen Einnahmen nur wenig ankomme. Was bisher zumeist anekdotisch geäußert wurde, hat kürzlich eine im Auftrag der Verwertungsgesellschaft Gema erhobene Studie bestätigt (Ergebnisse als PDF ).

    Demnach kämen nur 22,4 Prozent der Nettoeinnahmen tatsächlich bei den Musikschaffenden an – 1,87 Euro von den 9,99 Euro, die ein Musikstreaming-Abo typischerweise kostet. Zudem würden die Playlisten, auf denen neue Titel promotet werden, sehr intransparent zusammengestellt. Eine Anti-Streaming-Rebellion fand allerdings nicht statt beim Diskussionspanel: Zum einen wurde die Politik aufgerufen, sich des Themas anzunehmen. Zum anderen wurde nach einer Preiserhöhung bei den Musikstreamern gerufen, im Videobereich gehe das ja auch. Keine allzu populäre Forderung in Inflationszeiten.

Igor Levit und Carsten Brosda im Gespräch mit Moderatorin Aida Baghernejad

Igor Levit und Carsten Brosda im Gespräch mit Moderatorin Aida Baghernejad

Foto: Lidija Delovska
  • Konzert-Krise: Während Großkonzerte nach den Corona-Ausfällen oft ausverkaufte Stadien melden konnten, blieben viele Klubkonzerte deutlich leerer als vor der Pandemie. Die Folge: Auftritte und ganze Tourneen wurden abgesagt, weil sie sich nicht mehr rechnen. Zudem leiden die Klubs und noch mehr die Festivalveranstalter unter den gestiegenen Kosten für die Gewerke: Security, Bühnenaufbau, Soundtechnik – überall haben sich in Lockdownzeiten Fachkräfte umorientiert, jetzt sind sie rar und entsprechend teuer.

    Bei den Diskussionsrunden zu dem Thema wurde 2023 als Jahr der Entscheidung beschrieben: Mit dem Auslaufen der staatlichen Förderungen aus Coronagründen könne es zu massiven »Marktbereinigungen« kommen. Bereits jetzt kaufen Konzerne wie Live Nation oder CTS Eventim kleinere Unternehmen auf. Die Lobby-Organisationen der Branche drängen die Politik auf institutionelle Förderung des Bereichs – es gehe darum, Räume zu sichern, betonte auch Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda in einem Gespräch mit dem Pianisten Igor Levit.

    Doch auch Selbstkritik ist aus der Branche zu hören: Man habe das Publikum zu lange zu schlecht behandelt; die »Customer Experience« könne durchaus verbessert werden. Das Problem der Kostenspirale ist dadurch aber noch nicht gelöst: Eigentlich müsse man die Preise deutlich erhöhen, doch schon die jetzigen können oder wollen immer weniger Konzertbesucherinnen und -besucher aufbringen. Es drohe die Gefahr einer Zweiklassengesellschaft mit Konzerten, die sich nur »Rich Kids« leisten könnten.

Zwischen den Zeilen klang immer wieder durch, dass die Coronajahre den Menschen, die in der Branche tätig sind, gehörig zugesetzt haben. Mentale Gesundheit wurde von Beteiligten aller Ebenen angesprochen, der Satz »Ich muss das mit mir selbst ausmachen« fiel nur noch selten. Das Festival bot sogenannte »Awareness-Points« an für Gäste, die sich unwohl fühlten. Und auch auf der Bühne war Achtsamkeit ein Thema.

Entspannte Stimmung nachmittags im Festival Village

Entspannte Stimmung nachmittags im Festival Village

Foto: Christian Hedel

Ferdinand Kirch, der sich als Sänger und Produzent Nand nennt, erzählte bei seinem Auftritt im Mojo Club von den schlechten Zeiten, in denen der Song »Wohlfühlen« entstanden sei. Vielleicht könne das ja Mut machen und ein Beispiel geben. »Aber lasst euch da jetzt nicht unter Druck setzen«, fügte der 23-Jährige hinzu: »Man muss auch nichts Kreatives machen.«

Bei Betterov im Michel kommen zum abschließenden Song »Dussmann« alle Gäste noch einmal mit auf die Bühne. Gemeinsam feiern sie, dass es hier gelungen ist, schlechten Zeiten Kreativität abzuringen.

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