
Vocal Jazz: Sharp, smooth und cool
Exklusive Premiere Das neue Roger-Cicero-Album auf SPIEGEL ONLINE
"An urban cat who dresses sharp, talks smooth and plays it cool." Im kaum zu übersetzenden Szene-Slang beschreibt die "Washington Post" so den Jazzsänger von heute. Diese Darstellung trifft auf Roger Cicero zu, den deutschen Musiker, der aus engen Jazzkellern ins Pop-Paradies der Riesenarenen aufgestiegen ist. Da bot er statt Scat-Improvisationen eigene Songs mit deutschen Texten - "Frauen regiern die Welt" zum Beispiel. Gleichwohl trug Cicero eine kräftige Prise Jazz ins deutsche Musikgeschäft. Leute, die sonst Schlager hören, wippten mit den Füßen, wenn Ciceros swingende Bigband aufspielte und klatschten nach Soli seiner tollen Instrumentalisten. Drei Cicero-Alben wurden Bestseller. Der Sänger mit dem Blues-Brothers-Hut vertrat Deutschland auf dem "Eurovision Song Contest".
Nun klingt Ciceros neue CD "Was immer auch kommt" völlig anders als die munter groovenden Vorgänger. "Es geht in diesem Album um Veränderung", erklärt der 43-Jährige, "deshalb ist auch eine Veränderung des Klangs angebracht." Die Veränderung in Ciceros Leben ist die Trennung von seiner Lebensgefährtin und Mutter seines 5-jährigen Jungen. Die Veränderung seines Klanges bedeutet mehr Platz für Ciceros weiche Stimme und sparsamere Instrumentierung. Anstelle von Bläser-Riffs prägt ein Klangteppich von gefälligen Keyboard- und Gitarrensounds die Begleitung. Auf 13 Titeln gibt es nur ein Bläsersolo. Vielleicht spricht Ciceros neuer Sound noch mehr Menschen an, als die Musik davor. Aus Sicht von Jazzfreunden bewegt er sich in Richtung Pop.
Singer-Songwriter-Masche statt Jazz-Tradition
Tatsächlich ist das der Trend. "Grob geschätzt dürfte wohl höchstens noch jede zehnte Produktion, die unter dem Titel ,Vocal Jazz' subsumiert wird, das repräsentieren, was diese Musik im Kern ausmacht", urteilt das Fachblatt "Jazz Podium". Der Kern des Jazzgesangs sind Improvisation, Rhythmusgefühl und Kommunikation mit der Begleitband; wichtiger als die Schönheit ist die Ausdrucksstärke einer Stimme. Zunehmend aber werden eingängige Melodien wichtig; auch Aussehen und Show scheinen mehr zu zählen als Gefühlstiefe. Jazz-Sängerinnen und -Sänger nähern sich im positiven Fall dem Singer-Songwriter-Format, im schlechteren dem Schlagergeschäft.
Wer anders tickt, fühlt sich als Außenseiter. "Es war für mich lange Zeit ein komisches Gefühl, heutzutage auf Bebop zu stehen", gestand Anne Czichowsky dem "Jazz Podium". Die 33-jährige Sängerin widersteht dem Hang ihrer Alterskolleginnen zur Singer-Songwriter-Szene und hält sich an das klassische Jazz-Repertoire. Dabei vokalisiert und betextet Czichowsky Instrumental-Soli - auf ihrem neuen Album unter anderem ein Chet-Baker-Solo von 1985. Absolut mitreißend! Mutig gegen den Trend agiert auch Laura Winkler. Die in Berlin lebende Sängerin und Komponistin verbindet die zeitgenössischen Möglichkeiten von Stimme und Jazz-Orchester. Eine zwölfköpfige Band und ein Chor bilden den Background zu ihren Gesängen und Rezitationen von Texten des japanischen Autors Haruki Murakami. Winklers Werk ist mehr Neue Musik als Jazz. Der Bandname Wabi-Sabi bedeutet im Japanischen "die Schönheit im Schlichten".
Piano-getriebene Musik zum Tanzen.
Schlicht und schön klingen die Lieder der Sängerin Mayra Andrade von den Kapverdischen Inseln. Die Musik der ehemals portugiesischen Kolonie vor Afrikas Westküste hat Cesaria Evora in die Welt getragen. Dabei setzte die 2011 verstorbene Diva Maßstäbe, welche die 29-jährigen Andrade nicht erreicht. Ihr Album steht für aufgepoppte ethnische Musik, die heute meistens unter Vocal Jazz gelistet wird.
Zufall oder Absicht? Im gleichen Zeitraum wie Roger Ciceros Album erscheint die neue CD des anderen Jazzsängers, der im 21. Jahrhundert sein Land beim Eurovision Song Contest vertreten hat: Der Italiener Raphael Gualazzi war 2011 dabei und kam bei dem Wettbewerb sogar auf Platz zwei. Seine Platte "Happy Mistake" beschreibt der 32-Jährige als "Piano-getriebene Musik, mit dem Ziel, die Leute zum Tanzen zu bringen". Dabei beeindruckt Gualazzis virtuoses Klavier-Spiel manchmal mehr als sein Gesang. Anders als Cicero baut der Italiener primär auf Jazz-Elemente. Mal sehen welches Album besser laufen wird.
CDs
Roger Cicero: Was immer auch kommt. Warner; erscheint am 28. März.
Tournee ab 3. 5. Infos: Semmel Concerts.
CDs
Anne Czichowsky Quintet: The Truth And The Abstract Blues. Double Moon;
Laura Winkler & Wabi-Sabi Orchestra: Paper Clips. Traumton Records; erscheint am 4. April;
Mayra Andrade: Lovely Difficult. Columbia, erscheint am 28. März;
Raphael Gualazzi: Happy Mistake. Warner; erscheint im April.