Musikerin Sophia Blenda

Musikerin Sophia Blenda

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Helmut Fohringer / APA / picture alliance

Album der Woche mit Sophia Blenda Endlich Stille!

Die österreichische Sängerin Sophia Blenda transzendiert mit gewaltigem Kammerpop das patriarchale Grundrauschen der Gesellschaft: »Die neue Heiterkeit« ist unser Album der Woche. Und: Neues von Megan Thee Stallion.

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

Album der Woche: Sophia Blenda – »Die neue Heiterkeit«

»Niemand versteht, wie laut es war«, singt Sophia Blenda mit brüchiger Stimme am Schluss des zweiten Songs. Zuvor war von »still gelegten Feuern aus dritter Hand« und »still befohlenen Sätzen aus zweiter Hand« die Rede, doch die Musik, die dazu wogt und tost, ist gar nicht still; sie illustriert mit unheilvoll drängenden Piano-Läufen, leisem Knarr- und Knackgeräuschen, einer kalten Gischt aus synthetischen Streichern die schwermütige Dramatik unserer Zeit.

Die schwelenden Brände und die eingeflüsterten, aber doch sinnbetäubend lauten Befehle, die Blenda in »Wie laut es war« so poesiegewaltig beklagt, sind vermutlich das Grundrauschen patriarchaler Zwänge, die Frauen seit Jahrhunderten Verhaltensregeln einflüstern, ein Lärm, in dem sich das eigenständige Denken und Fühlen allzu leicht verliert.

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Blenda, eine 26 Jahre alte Sängerin, Songwriterin und Produzentin aus Wien, stemmt sich mit ihren neun Kompositionen gegen diesen Sturm der Verunsicherungen im Angesicht von Zukunftsängsten und zeternden, zehrenden Social-Media-Debatten. Allein am Klavier in ihrer Wohnung fand sie in sich und ihrer Musik einen Ort der Stille und Befreiung, eine Festung der Selbstsicherheit. »Die neue Heiterkeit«, so der kurios anmutende Titel dieser Sammlung verrätselter Kammerpop-Etüden, ist eines der stärksten deutschsprachigen Pop-Statements der jüngeren Zeit, ein weibliches Gegengewicht zu vergleichbar eindrucksvollen Seelen-Veortungen männlicher Kollegen wie Konstantin Gropper (Get Well Soon) und Max Rieger (All diese Gewalt).

Schon als Kopf der Band Culk durchdrang Blenda, die eigentlich Sophie Löw heißt, auf dem Album »Zerstreuen über Euch« sprachmächtig die Machtverhältnisse der Gesellschaft und der Geschlechter, immer wieder auch selbstkritisch und fragend in die eigenen, persönlichen Konflikte hineinstochernd. Nach den Aufnahmen zum zweiten Album der Band fand sie keine Ruhe, also setzte sie sich ans Klavier und experimentierte mit Garageband-Sounds, zunächst ohne ein Soloalbum im Sinn zu haben. Als Produzent Jakob Herber am Ende dazukam, eigentlich um die Aufnahmen zu verfeinern, war eigentlich kaum noch etwas zu tun: Die Songs waren fertig, sie blieben so wuchtig ausformuliert und zugleich roh wie Blenda sie geschaffen hatte. Am Anfang von »Hysteria« ist ihr Vater zu hören, wie er draußen am Haus schrappend Schnee schippt.

»Hysteria« ist einer der Höhepunkte des Albums. Ausgehend von dem althergebrachten Begriff, mit dem die Emotionalität von Frauen lange ins Reich der Pathologie verwiesen wurde, entwirft sie einen gordischen Knoten widersprüchlicher Impulse, die in ihr und anderen Frauen ohne große Hoffnung auf Lösung wüten: »Wogen glätten, Du sollst immer höhere Wellen schlagen / Ebben fluten und all Deine Schluchten begraben / Du sollst aber auch alle Deine zu hohen Wellen zerschlagen / Wogen glätten, um darin auszuufern.«

Es gibt kein Richtig im zugeschriebenen Falschsein: »BH« spielt mit rhetorischen Figuren mit dem Kleidungsstück der weiblichen (Selbst-)Unterdrückung, es steht für »befangene Haltung«, »bedeckenden Hochmut«, aber auch die »bohrende Hoffnung« auf ein Ende des Versteckens. Es geht um die Sehnsucht danach, ein Konstrukt weiblicher Selbstdeformation und männlicher Repression loszuwerden, das dazu dient, »den ganzen Menschen darunter [zu] entmächtigen«, so Blenda im letzten Vers des Songs. In »Fun« taumelt die Protagonistin auf der Party durch alle Zustände ihres »Dancing On My Own«-Gemüts: »Sie bleibt, sie schreit, sie lacht, sie weint / I think I’m having fun tonight«.

Trotz allen Dräuens und Düsterns plädiert Blenda mit ihrer suggestiven, eindringlichen Stimme am Ende für Frohsinn: Mit »Fear Is an Empty Space« mahnt sie die junge Generation zur Unverzagtheit – und beschwört im Titelstück den Aufbruch ins Ungewisse, die Loslösung von Komfortzone und Vergangenheit: »Heiter bleibt, wer an die Zukunft schreibt / Vermessen bleibt der Appell an die große Geborgenheit«, singt sie träumerisch klimpernd an kleine Schwestern, die bald zu großen reifen werden. Als Musikerin fühlte sie sich bisher nicht so ernst genommen, wie sie es gerne hätte, sagte Sophie Löw kürzlich der Wiener Zeitung »Die Presse«. Das dürfte sich hiermit erledigt haben. (9.0)

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Kurz abgehört: Megan Thee Stallion – »Traumazine«

Darüber, dass Megan Pete aus Houston, weltweit bekannt als Megan Thee Stallion, die versierteste und beste Rapperin zurzeit ist, müssen wir nicht mehr reden: Bereits auf ihrem Debütalbum »Good News« stellte sie ihre zahlreichen Skills und die Bereitschaft, ein globaler Popstar zu sein, kompetent und bezwingend unter Beweis; inzwischen hat sie Grammys gewonnen und tritt als Gast in potenziellen Blockbusterserien wie Marvels neuer, superweiblicher Serie »She-Hulk« auf. Der bisher größte musikalische Erfolg der 27-Jährigen war ihre schlüpfrige Pussy-Empowerment-Hymne »WAP«, die sie zusammen mit Kollegin Cardi B bestritt; jetzt verhandelt sie die vergangenen zwei Jahre ihrer traumatisierenden Megastar-Werdung auf einem sehr guten, aber dennoch zwiespältigen Album: Zwischen Charts-gerechten Tracks wie der House-Hymne »Her« oder »Sweetest Pie« (mit Dua Lipa) und sprachbrutalen Battletracks (»NDA«) arbeitet sie die Misogynie, Klatsch- und Sensationslust in sozialen Medien und Rap-Business auf, während sie gleichzeitig darauf pocht, unantastbar zu sein – auch wenn sie mal einen schlechten Tag hat. »All I really wanna hear is, ›It’ll be O. K.‹ / Bounce back ’cause a bad bitch can have bad days«, rappt sie über ein lustiges Jodel-Sample im introspektiven »Anxiety« und verblüfft in den von Promi-Einsamkeit handelnden Balladen »Star« und »Flip Flop« mit einfühlsamem Gesang. Noch spielen die von außen an sie herangetragenen Beefs und Medien-Narrative in ihren defensiven Texten eine zu große Rolle, um genug Raum für die Ansätze ihrer eigenen, packenden Erzählung zu lassen. Aber das gehört zum Game – und Megan Thee Stallion hat gerade erst richtig angefangen zu spielen. (7.7)

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Friedrich Liechtenstein – »Good Gastein«

Böse Zungen mögen behaupten, die Witzigkeit des Mitte der Zehnerjahre notorisch gewordenen Berliner Lebenskünstlers Friedrich Liechtenstein (»Supergeil«) erschöpfe sich in Gags wie dem, dass auf sein Debütalbum »Bad Gastein« von 2014 (man lese: »Bäd«) nun eben »Good Gastein« folgen müsse. Höhö. Doch in glitschigen Spoken-Word-Stücken wie »Tomatenliebe« offenbart der zum kompetenten Crooner und Selbstdarsteller gewandelte Ex-Puppenspieler, 1956 in Eisenhüttenstadt geboren, dann doch wieder eine hinterlistig im Märchenonkel-Gebrumm verborgene Abgrund- und Geschmackstiefe, die man sich durchaus genüsslich auf der Zunge zergehen lassen kann. Wenn ausgerechnet der Mann aus Ost-Berlin in »Westberlin« neun Minuten lang Orte, Ereignisse und Personen aufzählt und sich zum Westalgiker stilisiert, sollte man genau hinhören, denn die Hauptstadt ist halt auf Sumpf gebaut und grundsätzlich eine »blöde Kuh«: »Ach Berlin, Du bist wirklich nichts Großes, nichts zum Niederknien«, seufzt er im altmodischen Popsong »Ach Berlin«, dazu bereitet die Band The Octagon Pavillon um Saxofonist Sebastian Borkowski einen nostalgischen Sound zwischen Easy Listening und Lounge-Jazz.

Liechtenstein, das Two-Trick-Pony, hat die Chuzpe, sein zweites Album mit dem Klassiker »We Have All The Time In The World« zu beginnen, den er bereits auf seinem Debüt gecovert hatte. Sein nach Leonard Cohen gestreckter Baritongesang, der dann oft nur bei Harald Juhnke landet, ist nun jedoch noch resonanzreicher geworden, was ihm bei weiteren Interpretationen von Lana Del Rey, Carly Simon und Eurythmics zugutekommt. Seine mit viel Gurgeln und Schmatzen auf dem Kurhotelbalkon vorgetragenen Erzählungen sind oft rätselhaft, vielleicht zu verschroben, aber meistens amüsant. Doch erst, wenn Liechtenstein den Bademantel rafft und singt und swingt, bekommt »Good Gastein« einen wirklich guten Groove. (7.3)

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Phoebe Green – »Lucky Me«

»You don’t know me«, singt Phoebe Green in ihrer Robyn-haften Hyperpop-Hymne »Crying In The Club«, »but I don’t mind ’cause I don’t either«: Das Thema des Debütalbums der 23-Jährigen, die mit Singles wie »So Grown Up« und »IDK« bereits als »Manchesters nächstes großes Ding« ausgerufen wurde, ist also das typische der Generation Y: Selbstfindung und -betrachtung, ein zeitgeistiger Emo-Existentialismus, zu dessen Superstars Billie Eilish und Olivia Rodrigo zählen. Greens Album hat neben einigen guten, beziehungszentrierten Popsongs (»Make It Easy«, »Just A Game«) vor allem musikalisch Vielseitiges zu bieten. Die junge Musikerin, unterstützt von Alex Robertshaw und Tom Fuller (Everything Everything) lässt Gitarren und Bedroom-Ambiente hinter sich, um zwischen Alternative Rock, Hip-Hop und dem R&B und Synthiepop der Achtziger ihren eigenen Sound – und sich selbst – zu entdecken. (7.0)

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Danger Mouse & Black Thought – »Cheat Codes«

Hip-Hop ist ja längst in seine Klassikerphase übergegangen. Übersetzt man diese prominente Kollaboration in Rockverhältnisse, wäre es etwa so, als hätten sich Brian Eno und Bob Dylan für ein Album zusammengetan. Dad-Rap könnte man das nennen: Rap für alte Leute. Aber das tut der herausragenden Qualität keinen Abbruch. Brian »Danger Mouse« Burton wurde 2004 mit seinem frechen Beatles/Jay-Z-Crossover »The Grey Album« berühmt, spielte in Bands wie Broken Bells und Gnarls Barkley, produzierte dann mit viel Faible für Ennio Morricone und Retro-Schmelz erfolgreich Acts wie Gorillaz, The Black Keys und Michael Kiwanuka. Tariq »Black Thought« Trotter ist seit über 30 Jahren Texter und MC der Conscious-Rap-Paten The Roots, ein furchtloser und versierter Chronist der Black Experience von Rassismus und gesellschaftlicher Marginalisierung.

Ihr damals noch »Dangerous Thoughts« betiteltes Album sollte schon Anfang der Nullerjahre erscheinen, nun bildet es mit epischen Tracks wie »Aquamarine«, bitteren Ghetto- und Gewalt-Exegesen wie »Cheat Codes« oder der intimen Depressions-Vermessung »Identical Deaths« einen Old-School-Monolithen, an dem sich alte wie junge Fans und Musiker:innen des Genres musikalisch und moralisch aufrichten können. Allein der lässig-elastische Funk-Groove und das aus der Raritätenkiste gekramte Hugh-Masekela-Sample in »No Gold Teeth«… Meister am Werk. (8.5)

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Abgehört im Radio

Mittwochs um Mitternacht (0.00 Uhr) gibt es beim Hamburger Webradio ByteFM  ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte. Seit 1. Januar 2022 sendet ByteFM in Hamburg auch auf UKW (91,7 und 104,0 MHz).

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