Album der Woche mit Sudan Archives Sie könnte Beyoncé vom hohen, gläsernen Ross stürzen

Musikerin Sudan Archives
Foto:Edwig Henson
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Album der Woche:
Sudan Archives – »Natural Brown Prom Queen«
Wann kommt denn nun endlich die Fiedel!? Im zweiten Stück, dem Titelsong »Natural Brown Prom Queen (Topless)«, in dem Brittney Denise Parks alias Sudan Archives atemlos dahinhaucht, dass sie eigentlich nur ihre Brüste frei schwingen lassen will: »I just wanna hang my titties out, titties out, titties out«. Nach dieser frechen Ansage wird der zuvor chaotische durcheinanderklackernde Elektro-Track plötzlich ganz ruhig und episch fließend wie ein Filmsoundtrack, Parks spielt die Violine, ein frühes Markenzeichen ihrer Musik, in sehnsüchtiger, trauriger Weise über einem suggestiven Dschungelbeat, größer könnte der Kontrast zur vorherigen Hektik nicht sein. Der Stilcrash hat Methode: Zuvor gab es mit »Home Maker« schon eine aus Jazz-Moods, stampfenden Funk-Beats und Handclaps unter Volldruck zusammengepresste R&B-Hymne, die darauf zielt, Dancing Queen Beyoncé vom hohen, gläsernen Ross ihres jüngsten Albumcovers zu stürzen.
Nachdem sich Parks auf ihrem Debüt »Athena« bereits zur Göttin stilisierte, differenziert sie ihren Sound nun mit Rückgriffen in ihre Vergangenheit und die Karriereanfänge in ihrer Heimatstadt Cincinnati noch einmal aus: Was bereits wie ein starkes, scheinbar final geformtes Statement moderner, afrofuturistischer Folk- und Soulmusik wirkte, will sich nun mit aller Macht dem Pop öffnen – ohne dabei auf gewohnte Extravaganzen und Idiosynkrasien zu verzichten. Andere Künstlerinnen würden es nach zwei gefeierten EPs und einem Album vielleicht etwas ruhiger und gediegener angehen, doch Parks hat den Anspruch, die Dinge immer etwas anders zu machen als der Rest. »Cause I’m not average« – weil sie nicht durchschnittlich ist, wie sie in »NBPQ« proklamiert.
Die ganze erste Albumhälfte ist eine Attacke: R&B, Hip-Hop, westafrikanische Einflüsse, Elektronik-Sounds und immer wieder peitschende Perkussion wirbeln den Staub von früh erlebtem Rassismus, Demütigungen, Abfuhren und Kränkungen in Parks’ Biografie, die offenbar zum Teil bis in Highschoolzeiten zurückreichen, als die Afroamerikanerin vielleicht gern Prom Queen, also Abschlussballkönigin geworden wäre. Was für ein Drama! Furios meckert sie »fake bitches and fake friends« wie einer gewissen »Ciara« oder einem untreuen Boyfriend (»Loyal«) deutliche, erbitterte Verse entgegen. »They gone have a fit when they hear this shit / So independent«, triumphiert sie in »OMG Britt« wie eine selbstgewisse Göre, die stolz darauf ist, für Empörung zu sorgen, ein Störenfried zu sein.
Auch nicht namentlich genannte Kolleginnen, die ihren originären Style kopieren (und daran natürlich scheitern), kriegen in »Copycat« ihr Fett weg. Parks bedient sich dabei selbst bei der populären Battle-Rhetorik und Stilistik von Rapperinnen wie Nicki Minaj oder Megan Thee Stallion, aber sie streift deren Genres nur ganz lässig: Musikalisch hat sie mehr zu bieten als Trap-Beats, gemeine Reime und Attitüde.
Das zeigt sich vor allem in zwei Stücken, die zum Besten gehören, was Sudan Archives bisher veröffentlicht hat: »Selfish Soul« beschwört ihre durch Bitternis gestählte Eigensinnigkeit in einem Song, den man wohl am ehesten als Weltmusik-Punkrock bezeichnen kann, er klingt, als hätte sich die zornige Klangaktivistin M.I.A. mit der ironischen britischen Popmuse Lily Allen zusammengetan. Im Text denkt Parks darüber nach, ob es klug war, sich die Haare komplett abzurasieren, ob sie so lang und schön zurückwachsen, wie sie früher einmal waren – und ob das überhaupt erstrebenswert ist: der ganze Aufwand, den vor allem afroamerikanische Frauen mit Weaves und Perücken betreiben, weil der Versuch, die von außen (und Männern) herangetragenen Schönheitsideale zu erfüllen, ohnehin nur Ängste und Selbstzweifel nährt. Damit soll nun Schluss sein: »About time I embrace myself and soul / Time I feed my selfish soul«, singt sie emanzipatorisch – und macht sich frei, am und im Kopf. Was nicht heißt, dass sie sich in ihren knallbunten, visuell aufwendigen Videoclips nicht trotzdem als leicht bekleidetes Sexmonster mit (Fake-)Mähne bis zum Hintern zeigt. Das gehört zum Game, in dem sich Sudan Archives als kompetente Playerin erweist.
Das andere besondere Stück leitet zur Mitte des Albums in eine besinnlichere Hälfte über, die sich musikalisch zarter mit Familie, fragil gewordenen Liebschaften und viel Heimatnostalgie (»#513«, Vorwahl von Cincinnati; »Yellow Brick Road«, kein Elton-John-Cover) beschäftigen. Die Reise dorthin beginnt in einem »Chevy S10«, offenbar einem gepimpten Pick-up ihres Jugendfreundes, in dem Parks erste heiße Romanzen und Freiheitsgelüste verspürte. Der Song gleitet von einer an Frank Ocean erinnernden R&B-Ballade in einen immer dringlicher werdenden, swingenden Discofunk über, dann fast in einen House-Track, nebenbei wird auch noch Tracy Chapmans »Fast Car« zitiert. Es ist ein Aufbruch in bisher unerforschte, unverschämt glitzernde Popgefilde.
»Natural Brown Prom Queen« ist allein durch seine Homecoming-Thematik nicht nur ein schillerndes Gegenstück zu Beyoncés »Lemonade«, es festigt auch den Status von Parks als einer der fantasievollsten Erneuerinnen des erweiterten R&B-Genres neben Kolleginnen wie Solange, Spellling oder 070 Shake. Und die Fiedel, die Wiedererkennungskrücke aus ersten Singles wie »Come Meh Way«? Kommt auch immer mal wieder noch vor, ist aber längst nicht mehr die Hauptattraktion von Sudan Archives. Parks, das lässt sie ganz lässig im Video zu ihrer Selbstermächtigungshymne »Selfish Soul« heraushängen, kann ihre Violine sogar kopfüber an einer Pole-Dance-Stange hängend noch bedienen. Wenn sie’s will. (8.2)
Kurz abgehört:
Sampa The Great – »As Above, So Below«
Anders als Sudan Archives, die schlicht ihren Vornamen Brittney nicht mag, stammt Sampa Tembo tatsächlich aus Afrika, sie wurde in Sambia geboren und wuchs in Botswana auf. Wie zurzeit keine andere Popkünstlerin verschmilzt sie Afro-Einflüsse mit westlichem Hip-Hop und R&B – und verfügt über eine kämpferische, unverwechselbare Rap-Stimme. Nach ihrem bisherigen Karrierehöhepunkt »The Return« gräbt sie nun noch etwas tiefer an ihren afrikanischen Wurzeln, singt oder rappt einige Tracks im Bantu-Dialekt Wemba und lässt Elemente des sambischen Psychedelik-Rockstils Zamrock einfließen, während Rap-Gäste wie Denzel Curry und Joey Bada$$ gleichzeitig den internationalen Anspruch aufrechterhalten sollen. Inhaltlich geht es um die Rolle von Frauen in Afrika und die Rolle des Kontinents in der Welt. Das funktioniert gut (»Tilibobo«, »Bona«, »Mask On«), allzu oft schrammt es aber auch hart am Weltmusik-Kitsch entlang. Leider wieder weiter entfernt von der »Final Form« , der Sampa The Great auf ihrem letzten Album bereits so nahe schien. (7.0)
Otto von Bismarck – »Zu viele Erinnerungen«
Mit diesem auf die völlig falsche Fährte führenden Künstlernamen wird das doch schon wieder nix! Ottmar Seum gehört zu den wohl vielseitigsten, vielleicht auch zu den besten deutschen Songwritern, die keiner kennt. Bands, in denen er spielte, Grabhund Anfang der Achtziger, Space Cowboys oder zuletzt Two Chix & A Beer, zerbröselten, bevor es richtig losging. Jetzt also, nach fünf Jahren Tüfteln, ein Soloalbum beim Staatsakt-Label mit smoothen Popsongs (»Leichtes Leben«) und vielen drolligen Retro-Grooves, die an Carsten »Erobique« Meyer erinnern. Immer wieder aber driftet Otto von Bismarck, der früher mit Noise-Extremist Caspar Brötzmann spielte, in seinen ganz eigenen Space voller Schrägen ab (»Roboter«) oder wird plötzlich ganz deep und Neil-Young-episch (»Zu viele Erinnerungen«, »Nach Hause gehen«). Oder nassforsch, wenn über einem Skelett des Intros von Bowies »Under Pressure« über Seums geliebt-gehasste Wahlheimat Berlin gehetzt wird, »die abgefackteste (sic!) Stadt«. Ein Prosa-Crooner-Battle mit Friedrich Liechtenstein könnte man sich ganz schön vorstellen. Vinylraritätensammler sollten in jedem Fall schon mal zugreifen. (7.9)
Jockstrap – »I Love You Jennifer B«
Von einschlägigen Popmedien in den USA und UK wird das Debütalbum des britischen Duos Jockstrap bereits als eines der besten des Jahres bejubelt. Nun, man wird sehen. An die Szene-Intelligenzija appellierende Kunsthochschulmanierismen, Experimentierwut, rasante Klangkehrtwendungen sowie der wahrscheinlich ironische, in Interviews geäußerte Anspruch, sehr berühmt zu werden, sind reichlich vorhanden bei Violinistin und Sängerin Georgia Ellery und Elektronikmusiker Taylor Skye. Einige faszinierende Songs allerdings auch: die perlende, sich charmant wie die kühle schottische City gegen ihre Griffigkeit sträubende Ballade »Glasgow« zum Beispiel, die zu Madonna und Fatboy Slim schielende Disco-Dekonstruktion »Greatest Hits« oder der erst zarte, dann überkandidelte Bedroom-Vaudeville von »Angst«. Anderes, darunter die Bollywood-Behauptung »Debra« oder das hinterhältig mit Noise überfrachtete »Neon« bleibt schlicht zu gewollt und angestrengt originell, um wirklich Pop-Appeal zu erzeugen. (7.5)
Ozzy Osbourne – »Patient Number 9«
Von einem durch zahlreiche Exzesse gezeichneten Rockveteranen wie Ozzy Osbourne, 73, erwartet man vielleicht noch lustige Döntjes in Interviews, die immer auch die letzten sein könnten. Aber ein gutes Album? Come on! »Patient Number 9« ist verblüffenderweise nur halb so gruselig, wie man fürchten konnte, sondern macht großen Spaß (wenn man auf diese immer auch zurück in die Achtzigerjahre stampfende Oldschool-Spielart des Hardrocks steht). Aber da gab es schon viel Schlimmeres. Osbourne, geplagt von Parkinson und Rückenweh, kokettiert in mehreren Songs mit dem Tod, konstatiert im fatalistischen »No Escape from Now« (mit Black-Sabbath-Kollege Tony Iommi), dass ihn ja eh jeder schon ins Grab wünscht, behauptet dann aber trotzig, unsterblich zu sein (»Immortal«). Es gibt viel amüsantes Gemunkel über »Darkness«, verdunkelte Sonnen, Vampire und andere Okkultismen, der Irrenhauspatient im Titelsong könnte natürlich auch der früher oft drogenparanoide »Madman« Ozzy sein, einen pubertär-halbstarken Bluesrock-Schieber mit Iommi über Masturbiermarathons (»Degradation Blues«) und eine bombastische Powerballade (»God Only Knows«) gibt’s auch: streckenweise peinlich, oft ganz rührend. Und wer es schafft, dass eingeladene Gitarrengötter wie Jeff Beck und Eric Clapton plötzlich gar nicht mehr so frühvergreist klingen wie auf ihren jüngsten Soloalben, der hat definitiv noch genug Körner, um der einen oder anderen Höllenfledermaus den Kopf abzubeißen. Na ja, vielleicht wenn sie aus weichem Fruchtgummi sind. (6.9)
Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)
Mittwochs um Mitternacht (0.00 Uhr) gibt es beim Hamburger Webradio ByteFM ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte. Seit 1. Januar 2022 sendet ByteFM in Hamburg auch auf UKW (91,7 und 104,0 MHz).