Symphonische Klassik Von wegen "Papa Haydn"!

Jubeljahre nerven, aber sie fördern auch Juwelen zutage: zum Beispiel eine beeindruckende Gesamtaufnahme mit allen 104 Symphonien Joseph Haydns. Ein ebenso ehrgeiziges wie mutiges Projekt - das trotz seiner fast 40 Jahre frisch und modern klingt.

Für Klassik-Fans kommt's 2009 ganz dicke: Ein Jubiläum jagt das andere. Mendelssohn und Händel werden gewürdigt, und auch Joseph Haydns 200. Todestag steht an. Das Gute daran: Wer sich ein perfektes Paket des Meisters gönnen will, hat es leicht. Er bekommt sämtliche Haydn-Symphonien in einer Gesamtaufnahme, die zwar über mehrere Jahre entstand, aber so kompakt klingt, als sei sie in einem Rutsch von einem optimal motivierten Orchester eingespielt worden.

Dieses Orchester war die Philharmonia Hungarica, und der Dirigent hieß Antal Dorati - eine glückliche Verbindung, bei der Haydns Symphonien-Monument ebenso enthusiastisch wie souverän realisiert werden konnte. Zwischen 1969 und 1972 spielten die Musiker und ihr Chef die 104 Stücke ein, meist in der Bonifatiuskirche in Marl, und lieferten dabei ein überzeugendes Gesamtbild von Joseph Haydns orchestralem Lebenswerk. Auch nach fast 40 Jahren klingt ihre Arbeit noch frisch - und gilt vielen Fans als Referenzaufnahme. Soeben ist sie wieder veröffentlicht worden.

Die Philharmonia Hungarica war kein Orchester wie alle anderen: Die Musiker emigrierten nach dem Ungarn-Aufstand 1956 in den Westen und fanden im westfälischen Marl eine neue Heimat. Es hätte auch Milwaukee in den USA oder Linz in Österreich werden können - so begehrt waren die Philharmoniker. Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer warf sich höchstpersönlich für die Kultur-Flüchtlinge in die Bresche, und ab 1960 trug der Klangkörper sogar den Beinamen Staatsorchester. Dabei war auch politisches Kalkül im Spiel, sicherlich, aber die künstlerische Kompetenz der Philharmonia Hungarica stand außer Frage.

Antal Dorati, selbst Ungar und in Budapest geboren, liebte das Exil-Orchester besonders: nicht nur aus patriotischen, sondern vor allem aus künstlerischen Gründen. Dies ermutigte ihn, die riesige Werkgruppe Haydns erstmals komplett in Angriff zu nehmen - eine ebenso ehrgeizige wie mutige Premiere. Mit ihr setzten sich Dorati und die ungarischen Philharmoniker ein musikalisches Denkmal.

Der differenzierte, durchsichtige Klang ließ die vielschichtigen und nuancenreichen Konzertstücke leuchten. Dorati räumte dabei gründlich mit dem hartnäckigen Bild vom "Papa Haydn" auf, dessen Hauptverdienst es gewesen sei, den Weg für das größere Genie Mozart zu bereiten. Natürlich entwickelte Haydn aus barocken Konzertformen die später bestimmende klassische Symphonieform - nur gab er ihr auch gleich einige umwerfend originelle und wagemutige Höhepunkte mit auf den Weg.

Niemand kann und sollte sich natürlich 104 Symphonien in monomanischer Klausur anhören - aber fast jede Stichprobe bei diesem Respekt einflößenden Klotz (33 CDs) überzeugt: zum Beispiel die Interpretationen der Werke zwischen No. 98 und 104 im Vergleich zu den - ebenfalls höchst eigenständigen - Interpretationen von Nikolaus Harnoncourt mit dem Amsterdamer Concertgebouw Orchester. Doratis kammermusikalisch geprägter Feinschliff oder Harnoncourts flächig-druckvoller Sound: Das ist manchmal eine schwierige Wahl, aber doch mit Vorteilen für Doratis Dezenz.

Auch Harnoncourts Aufnahmen mit dem Wiener Concentus Musicus bringen interessante Varianten: Die Interpretation der bekannten "Abschiedssymphonie" No. 45 beispielsweise bietet eine Fülle klanglicher Details und präsentiert Haydn als einen radikalen Harmonie- und Form-Experimentator. Die Purzelbäume etwa des Menuetts dürften Hörer im 18. Jahrhundert erheblich verstört haben.

Dorati wählte zwar selten moderne, flotte Tempi, dennoch klingen seine Haydn-Darstellungen pulsierend lebendig. Für drei Sätze der "Oxford"-Symphonie No. 92 benötigt er nahezu exakt dieselbe Zeit wie der oft exzessiv langsame Sergiu Celibidache in seiner Live-Aufnahme von 1993 mit den Münchner Philharmonikern. Lediglich das Adagio dauert bei Celibidache satte elf Minuten. Für Dorati undenkbar: Im Rahmen seiner wunderbar fließenden Werkdeutung ist bereits nach weniger als sieben Minuten Schluss.

Ob Dorati mit dem forschen Zugriff näher an Haydns Dramaturgie dran war als Tiefenforscher Celibidache, ist auch eine Frage des Geschmacks. Den kann man nun günstig erforschen: Bereits für weniger als 50 Euro gibt's die (allerdings ärmlich ausgestattete) Box zu kaufen.


Joseph Haydn: "The Complete Symphonies". Philharmonia Hungarica, Antal Dorati (Dirigent) (Decca 478 1221) Limited Edition;

Joseph Haydn: "Symphonies 68 & 93-104". Royal Concertgebouw Orchestra. Nikolaus Harnoncourt (Warner Classics 2564 63061-2).

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