Tageskarte Klassik Schöne Armut
Alle Welt redet von "Pop-Klassik". Bei dieser angeblich neuen Leitkultur eigentlich: Light-Kultur handelt es sich um jene Zwitschervögelchen von Helmut Lotti bis Marshall & Alexander, die in angrenzenden Pop-Gefilden beheimatet sind und dort sehr, sehr viel Geld verdienen. Genau deshalb hat man schon lange davon geträumt, auch umgekehrt einmal einen der Greifvögel aus dem heiligen Hain der Klassik in den Garten Eden des schnellen Geldes entsenden zu können. Jetzt hat die Pop-Klassik ihre erste Opern-Gesamtaufnahme erhalten.
Anna Netrebko und Rolando Villazón, das "Traumpaar der Oper", treten zwar live kaum mehr gemeinsam auf. Villazón schwächelt seit seiner Stimmkrise mit vokal halber Kraft (und brüchiger Mittellage). Wer weiß, ob er sich jemals wieder erholen wird? Anna Netrebko, wenn sie nicht gerade absagt, freut sich auf ihre Babypause (und das gemeinsame Kind mit dem uruguayanischen Bariton Erwin Schrott). So rasch dieses Business-Paar öffentlich verbandelt wurde, so schnell scheinen sich ihre Wege auch wieder zu trennen. Auf dem schmutz-broncierten Cover der Live-Aufnahme von Puccinis "La Bohème" senkt man die Blicke vielleicht letztmalig tief ineinander.
Schöne Armut. Die Szenen aus dem Pariser Kunst-Proletariat des Fin de Siècle wurden live im Münchner Gasteig verewigt (im April 2007, als Villazóns Stimme noch voll im Saft stand). Die Aufnahme bildet den Soundtrack des geplanten Kinofilms von Robert Dornhelm. Der Regisseur hat sich dafür kein höheres Ziel gesetzt als "den Sängern ein Denkmal zu setzen". Schöne Bescheidenheit, aber für einen Zweistünder doch möglicherweise etwas wenig. Dann lieber gleich diese Gesamtaufnahme.
Mit Bertrand de Billy hat man sich einen süffigen Puccini-Maestro geangelt, der das morbide Krisenbild als schwungvollen Sektempfang arrangiert. So harmlos klang die Armut von Künstlern, die im kreativen Dreck zu Grunde gehen, noch nie. Es ist eine störungsfreie Klangtapete für alle, die sich Tuberkulose als eine romantische Liebeskrankheit ausmalen. Als Musetta hat man Nicole Cabell ins Rennen geschickt. Eine luxuriös runde Sache.
Nicht verheimlicht sei, dass Anna Netrebko und Rolando Villazón fast nie so gut klangen wie hier. Netrebkos erotisch glühende Höhen und Villazóns emphatischer Überdruck begeistern, auch wenn nichts von der Brüchigkeit, Morbidezza oder sinistren Panik des Stücks durchdringt. Wer die abgründig milde Verzweiflung dieser Oper kosten will, sollte lieber die alte Aufnahme von Thomas Beecham wählen (mit Victoria de los Angeles und Jussi Björling) oder die Ohren öffnende Grandezza bei Karajan (mit Mirella Freni und Luciano Pavarotti).
Die neue "Bohème" ist einerseits ein Denkmal für die großartigen Sänger Netrebko und Villazón, denen man mehr gemeinsame Projekte wünschen würde. Und andererseits eine Einstiegsdroge für Pop-Fans, die sich einen Klassik-Ausrutscher gönnen möchten. Ist immerhin was! Das gelobte Land der Klassik aber liegt weiter weg. Ungefähr einen Amazon oder jpc-Klick entfernt.