
"Tannhäuser" bei den Wagner-Festspielen Eine kalkulierte Zumutung
Der Wagner-Freund ist Kummer gewöhnt, auch in Bayreuth, seiner liebsten Pilgerstätte. Junge, wilde Regisseure verheben sich in schöner Regelmäßigkeit an den leicht verstaubten Brocken aus dem 19. Jahrhundert. Dafür kann man sich in Gegenwart der Bundeskanzlerin und anderer bedeutender Zeitgenossen an den Künsten großartiger Solisten erfreuen, notfalls mit geschlossenen Augen.
Genauso war es auch dieses Mal, beim "Tannhäuser", bei der Premiere der Festspiele. Intendantin Katharina Wagner, Richards Urenkelin, hatte Tobias Kratzer, 39, engagiert, einen Profi, der noch keine Chance zum Spektakel ausgelassen hat. Sei es, weil Kratzer es nun hier, im Zentrum des weltweiten Wagner-Kultes, besonders originell machen wollte, sei es, weil ihm dafür die wirklich zündende Idee fehlte: Ein richtiger Knaller ist dieser "Tannhäuser" nicht. Lauter Beifall und noch lautere Buhs waren am Ende zu hören. Auch Stardirigent Walerij Gergijew hatte nicht seinen besten Tag.
Wagners romantische Oper "Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg" erzählt eigentlich die Geschichte eines ehrbaren Ritters, der auf den hochamourösen Venusberg geflüchtet ist. Irgendwann wird ihm das Lotterleben dort langweilig, er verlässt die Liebesgöttin Venus und beteiligt sich an einem Sängerwettstreit auf der Wartburg, um die Liebe der frommen Elisabeth zu gewinnen.
Doch der Schwiegervater in spe und die singende Konkurrenz verübeln ihm seine Liaison mit Venus, Tannhäuser soll erst Buße tun, aber der Papst nimmt sie ihm nicht ab. Schließlich sind alle tot, Elisabeth und Tannhäuser, denn ein Happy End kann es nicht geben.
Mord statt sexueller Überdruss
So weit das Original. Doch Kratzer interessiert sich nicht für den moralischen Konflikt zwischen bloßem Sex und wahrer Liebe. Und er tut gut daran, denn in Wahrheit dürfte sich auch niemand im Publikum dafür interessieren, der Stoff ist halt doch ein bisschen von gestern. Stattdessen sieht Kratzer im Tannhäuser Wagner selbst und zwar den frühen, "anarchistischen Wagner", wie er sagt, den 48er Revolutionär, der selbst in Dresden auf die Barrikaden kletterte. Tannhäuser ist hier der Mann, der alle Regeln sprengt, der von den Autoritäten kujoniert wird, weil er bedingungslos nach Sinnlichkeit und Freiheit strebt.
Für den Venusberg hat sich der Regisseur ein ziemlich skurriles Personal ausgedacht. Venus (Elena Zhidkova) tritt im hautengen Glitzerbody auf, Tannhäuser (Stephen Gould) ist als Clown verkleidet, außerdem hat Kratzer noch zwei Gestalten dazuerfunden: Oskar, gespielt vom kleinwüchsigen Schauspieler Manni Laudenbach, und Le Gateau Chocolat (der Schokokuchen), eine bärtige Dragqueen aus London. Noch während der Ouvertüre wird ein Film eingeblendet, in dem das bunte Quartett mit einem alten Lieferwagen durch den Thüringer Wald brettert, man stiehlt Benzin und betreibt Zechprellerei. Und ganz nebenbei wird auch ein Polizist überfahren.

Dieser Mord aber - und nicht sexueller Überdruss - bringt Tannhäuser zur Einsicht. Ihm, dem Clown, kullern nun die Tränen übers Gesicht, und er verabschiedet sich vom Venusberg. Die Revolution hat sich damit erledigt. Und genau das hätte Kratzers Thema sein können: das Drama von der selbstzerstörerischen Kraft des Aufbegehrens gegen Recht und Gesetz.
Stattdessen hat es eher den Anschein, als ob sich der Regisseur vor den Wagnerschen Emotionen fürchtet. Wann immer Gefühle ausgedrückt und beschworen werden: Er lässt sie zumindest optisch brechen. Schon am Anfang dürfen sich Venus und Tannhäuser nicht wirklich lieben, die Dauerpräsenz ihrer Mitfahrer im Lieferwagen zerstört jede Intimität.
Eine kalkulierte Zumutung
Im zweiten Aufzug teilt der Regisseur gar das Bühnenbild in zwei Ebenen: Oben laufen die Bilder einer Webcam aus dem Backstage-Bereich, man sieht den Inspizienten und schnatternde Choristen vor ihrem Auftritt. Unten, auf der richtigen Bühne, singen die wahren Menschen, mit Inbrunst und großer Stimme (eine Entdeckung übrigens die kraftvolle Präsenz der jungen Norwegerin Lise Davidsen als Elisabeth).
Den dritten Aufzug schließlich lässt er auf einem malerisch verrotteten Schrottplatz spielen, wo es zum Äußersten kommt: Elisabeth, verzweifelt über den unglücklich-untreuen Tannhäuser, holt sich dessen Rivalen Wolfram ins Bett. Tannhäuser als Clown, ein toter Polizist und Sex zwischen Wolfram und Elisabeth: eine kalkulierte Zumutung für alle Wagnerianer.
Immer geht es Kratzer um die Reduktion von Pathos. Nüchternheit ist Trumpf, Komik und Witz ruinieren die Emotionen. Und dennoch: Dem neuen optisch unterhaltsamen "Tannhäuser" dürfte ein längeres Leben beschert sein als der letzten Bayreuther Inszenierung aus dem Jahr 2011, die vorzeitig aus dem Spielplan verschwand. Regisseur Sebastian Baumgarten hatte die Wartburg in eine Biogasanlage verwandelt, mit gewaltigen Tanks und Röhren. Einige Akteure hauchten buchstäblich in einer Art Gaskammer ihr Leben aus, finstere Assoziationen also an die deutsche Geschichte. Selbst Wohlmeinende sahen darin eine weitgehend sinnfreie Provokation.
Tobias Kratzer kann sich eine kleine Anspielung auf diese Pleite nicht verkneifen. Das Quartett vom Venusberg fährt in einer Szene auch an einer "Biogasanlage" vorbei. Auf dem Schild klebt ein Zettel "mangels Nachfrage geschlossen".