Abgehört - neue Musik In der Kirche der heiligen Entfremdung
Slowthai - "Nothing Great About Britain"
(Method Music/Universal, ab 17. Mai)
Die Dinge in Großbritannien laufen derzeit ja ungefähr so gut wie ein mit Super Plus gefüllter Dieselmotor: Das Gesundheitssystem ein schlechter Witz, die Kluft sozialer Ungleichheit ist schwindelerregend, es gibt kaum Aufstiegschancen und eine weitgehend verantwortungslose Kulturpolitik. Obendrein durchlebt das Land in den fast drei Jahren seit dem Brexit-Referendum eine shit show beinahe biblischen Ausmaßes. Was all diese Zustände eint? Sie lassen die ohnehin schon von Armut bedrohte Bevölkerungsmasse im Königreich noch mehr leiden.
Leute wie Slowthai also. Der als Tyron Frampton geborene Rapper wuchs in einer Sozialwohnungssiedlung am Rand der verwelkten Industriestadt Northampton auf, wo man laut seinem eigenen Bekunden drei Perspektiven hat: Drogen nehmen, Drogen verkaufen - oder es zur Uni schaffen, das Studium zu schmeißen, um dann Drogen zu verkaufen. In seiner Musik hat es sich der 24-Jährige zur Aufgabe gemacht, den derart Abgehängten eine Stimme zu verleihen. "The farmers are coming", heißt es in einem seiner frühen Songs. Die Farmer, das sind die Marihuanazüchter und -dealer.
Und deren Botschaft ist unmissverständlich. Mit einem Ruhepuls von 220 rappt sich Frampton Geschichten aus dem dunklen England von der Brust, durchwirkt von Zwecknihilismus und Melancholie, während die Musik dazu Bass-Leberhaken in bester Dizzee-Rascal-Manier verteilt. Apokalyptisch könnte man das nennen. Oder eben realistisch, je nach Perspektive. Mehr nach Punk klang jedenfalls zurzeit kein UK-Rapper.
Das gilt auch für Framptons Debütalbum "Nothing Great About Britain". Dennoch fällt auf, dass das Album im Vergleich zu seinen früheren Veröffentlichungen verstärkt auf akustische Verträglichkeit setzt. In Songs wie "Gorgeous" oder "Grow Up" (feat. Jaykae) schleicht sich so etwas wie ein blasser Soul ein; "Missing" klingt fast so, als hätten sich Radiohead in den örtlichen Grime-Club verlaufen.
Die dringliche Botschaft korrumpiert das jedoch keineswegs, zumal ein Großteil der elf Tracks weiterhin wie ein Sommergewitter aus Bassdonnergrollen klingt. Allerdings transportiert Frampton seine Wut verstärkt über die Texte, die er in einem intellektuellen Flow irgendwo zwischen Eminem und dem jungen Skepta vorträgt. Dabei geht es jetzt weniger explizit um Drogen, Gewalt und Perspektivlosigkeit, denn Frampton hat in einer Art impressionistischer Praxis gelernt, mit wenigen Worten suggestive Bilder zu zeichnen.
Leihfahrräder tauchen darin etwa auf, die für kurze Zeit zum Vehikel für den erträumten Aus- oder Aufstieg werden. Es geht um die Unmöglichkeit von Liebe in den Wastelands der britischen Sozialbrennpunkte und die wärmende Brüderlichkeit, die dort jene Gangs liefern, die gleichzeitig für die in den Vierteln grassierende Gewalt sorgen. Das alles ist maximal persönlich, scheut nicht vor Verletzlichkeit zurück und legt einfühlsam jene kleinen Dramen offen, die tagtäglich passieren, von denen aber kaum jemand erfährt.
Natürlich wird Slowthai damit weder das Gesundheitssystem flicken noch soziale Ungerechtigkeit lindern. Dennoch trifft "Nothing Great About Britain" im Jahr 2019 den richtigen Ton und die gestressten Nerven seiner Nation. Frampton schafft es, den farblosen drag britischer Vorstädte einzufangen, der von den Kinks bis zu Pulp immer wieder den Inselpop prägte - und diesen ins Storytelling des Hip-Hop zu übersetzen.
Zum Beispiel im Schlussstück "Northampton's Child", das auf bedrückende Weise Framptons Lebensgeschichte rezitiert: Der Vater früh weg, der Stiefvater ein Alkoholiker, der immer noch fremdgeht als Framptons Bruder schon aufgrund einer Erbkrankheit im Sterben liegt. Im Zentrum steht aber die Mutter: "12 hour shifts all week", rappt er. "Told me it never stops." (8.7) Dennis Pohl
Preisabfragezeitpunkt
07.03.2021 07.52 Uhr
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The National - "I Am Easy To Find"
(4AD/Beggars, ab 17. Mai)
Sagen wir mal so: Ich würde mir sehr gerne einen 70 Minuten langen Film von Arthouse-Regisseur Mike Mills ("Thumbsucker") mit Alicia Vikander ansehen und wäre zufrieden mit einem neuen Album von The National, das sich auf eine knappe halbe Stunde Spielzeit beschränkt. Pech gehabt, denn die ewig kuntsinnige Rockband aus Ohio hat sich das genau andersherum ausgedacht: Zum achten Album "I Am Easy To Find", das sich über mehr als eine Stunde dann doch sehr zäh auswalzt, gibt es einen begleitenden 24-Minuten-Film von Mills.
Der mit der Band inzwischen freundschaftlich verbandelte US-Regisseur war Ende 2017 auch Auslöser für die Matt Berninger, die Dessner- und die Devendorf-Brüder, recht kurz nach dem letzten Album "Sleep Well Beast" gleich in ein neues Projekt zu starten. Am Material scheiterte es nicht, denn es lag wohl noch genug herum, was bisher keine Verwendung gefunden hatte, darunter das bereits vielfach live erprobte "Rylan".
Nun könnte man The National also vorwerfen, nach 20 Jahren Erfolgsgeschichte im Mainstream des Indierocks saturiert auf der Stelle zu treten, weil sie einen Haufen alten Kram zu einem Album kompilieren und als Gag den Mills-Film dazu zu reichen, ein "Schwesterprojekt", wie es heißt. Aber so einfach ist das nicht. Zum einen wirkt "I Am Easy To Find" schon allein deshalb nicht disparat, weil es den schwermütigen Songs, zumeist von Berninger geschrieben, immer um dieselben Themen geht: die Qual, sich selbst zu finden, die Angst, sich wieder zu verlieren - und die Unfähigkeit, der oder dem Liebsten diese emotionalen Prozesse zu vermitteln. So'n Männerding halt. Inhaltlich sind sich The National da über die Jahre sehr treu geblieben, und warum darum noch etwas ändern, wenn die Fanbase an Berningers Lippen hängt und raunt und Rotwein süffelt?
Es kann also nur um mehr oder minder interessante Nuancen gehen. Und die bietet dieses National-Album in Hülle und Fülle, wenn man es schafft, sich wirklich auf jeden Song zu konzentrieren - schwer genug. Nur selten, im wundersamen Sprechstück "Not In Kansas" oder im schwirrenden, trommelnden Brainstorm von "Where Is Her Head" entfaltet die Musik eine experimentelle Kraft. Ansonsten wird im getragenen Midtempo mümmelnd und mummelnd durch die Melancholie orientierungsloser Kerle marschiert. Aaron und Bryce Dessner haben, wie schon zuletzt, die Hoheit über das Klangbild übernommen. Es dominiert das Piano, nicht die Gitarre, die Rhythmen orientieren sich an elektronischen Blaupausen, stolpern im Mäandertakt der lyrischen Protagonisten. Es zirpen Streicher, werden Saiten gezupft, es gleißt und hallt viel - und ewig singen sakrale Chöre, manchmal sogar alleine wie in "Her Father In The Pool", so dass einem ganz fromm zumute wird.
In die Kirche der heiligen Entfremdung wurden aber diesmal auch viele Frauen eingeladen, Indie-Sängerinnen wie Lisa Hannigan, Sharon Van Etten und Mina Tindle. Sie spiegeln Berningers Gesänge mit eigenen Impressionen, es entsteht erstmals so etwas wie ein Dialog, das von Berninger angenuschelte Pendant bleibt nicht mehr sprachlos. Ein Suhlen im eigenen Ego kann man The National also wirklich nicht vorwerfen. Ob nun aus Ratlosigkeit oder willentlicher Modernität heraus, sie öffnen ihre Band zum diversifizierten Kollektiv, zu dem nun wohl auch dauerhaft Regisseur Mills gehört. Aber machen wir uns nichts vor: "I Am Easy To Find" mag nach Öffnung, Nähe und erlösender Findung klingen, aber am Ende, schließt Berninger in einer U2-Ballade das Album, bleibt er doch wieder Lichtjahre entfernt: "I would always be/ Light years away from you". Dieser Sauertopf ist noch lange nicht ausgelöffelt. (7.0) Andreas Borcholte
Preisabfragezeitpunkt
07.03.2021 07.52 Uhr
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Ciara - "Beauty Marks"
(Beauty Marks Entertainment/Warner, seit 10. Mai)
So kann digitale Tauschwirtschaft auch aussehen: Auf Ciaras Homepage erhält aktuell nur Einlass, wer als Pfand ein radikal ungeschöntes Selfie hochlädt. "Hab keine Angst, deine Schönheitsflecken zu zeigen!", heißt es da aufmunternd. Wenn man das Cover von "Beauty Marks" allerdings als Beispiel versteht - es zeigt die Künstlerin als Geschöpf aus dem Photoshop-Reich - stilisierte Pose, schwarzer Lack auf schwarzer Haut -, überlegt man noch mal kurz, welcher Instagram-Filter diese Definition von "ungeschönt" wohl am besten simuliert.
Damit ist man mitten im Thema. Ciaras siebtes Album dreht sich um die Umwertung der Werte: Makel können zur Zier werden, Schmerz macht stärker, Narben sind schön. Die "Beauty Marks" sind dabei nicht nur das Leitmotiv der Songs, sondern auch der Namensgeber für Ciaras frisch gegründete Plattform als Kreativunternehmerin. Ihr erstes Album auf ihrem eigenen Label behauptet einen persönlichen und künstlerischen Neubeginn. Das tut zwar jede Platte, die kein Debüt ist, aber die Ausgangslage macht das im vorliegenden Fall immerhin nachvollziehbar.
Ciara musste Mitte der Nullerjahre nach zwei sehr erfolgreichen Alben schnell in die zweite Reihe der R&B-Sängerinnen zurücktreten. Es gab noch Kollaborationen mit Missy Elliott, Justin Timberlake und Nicki Minaj, doch Ciara verlegte sich eher darauf, das Genre auf sein Bad-Taste-Potenzial abzuklopfen. Trotzdem spielt sie nach wie vor in einer Liga, in der die Musik als Spiegelbild des Privatlebens herhalten muss und die Biografie verbürgt, was die Songs verhandeln - mit Haut und Haaren und Gossip-Headlines. Nach ihrer Trennung von Rapper Future, der Hochzeit mit NFL-Quarterback Russell Wilson und der Geburt ihres zweiten Kindes erklärt Ciara nun also voll Freude, das Patentrezept für Leben und Erfolg in diesem besonderen Habitat gefunden zu haben: Selbstliebe. "I can have it all cause I love myself", frohlockt sie im Eröffnungsstück und lässt Gastrapper Macklemore ausführen, dass man nur mit sich selbst im Reinen ein Vorbild für andere sein kann. Man hat schon mal originellere Neuerfindungsnarrative gehört.
"Level Up" fährt dann noch mal das rasante Tempo älterer Songs auf. Der Refrain täuscht vor, es ginge um ein Loblied auf den Cunnilingus, getarnt als Loblied auf Völlerei ("Know you want this yummy, yummy all in your tummy"). Beides sind letztlich nur Metaphern für das Grundgesetz des Kapitalismus, das hier speziell für angehende Ehefrauen ausgelegt wird: Immer noch mehr wollen, immer nach Höherem streben.
Auf dem Rest des Albums erkennt Ciara das nächste Level für sich offensichtlich darin, öfter mal einen Gang runterzuschalten, so wie beim gemütlich verschunkelten "Thinkin Bout You". Wenn das die neue Ciara ist, dann kann man ihr Erfolgsrezept auch anders beschreiben als mit Blabla über die Anmut von Schönheitsfehlern. Der Song hat beste Chancen für die Heavy Rotation bei Rentnerdisko FM. (6.1) Arno Raffeiner
Preisabfragezeitpunkt
07.03.2021 07.52 Uhr
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Tim Hecker - "Anoyo"
(Kranky/Cargo, seit 10. Mai)
Mit Kirchengeorgel und Mittelalterchören ist Tim Hecker erst mal durch. Nach mehreren Alben, auf denen der kanadische Krach- und Ambient-Komponist solcherlei Ausgangsmaterial durch digitale Unkenntlichkeitshäcksler schredderte, gilt sein Interesse momentan den Flöten und Trommeln der jahrhundertealten Gagaku-Musik. Aus jenen Instrumenten, die traditionell am Hof des japanischen Kaisers erklingen, kitzelte der Künstler mit seiner letztjährigen Platte "Konoyo" eine Zerstörungswut heraus, die inzwischen selbst zur Tradition seines eigenen Schaffens geworden ist. Der Kollisionskurs von menschlichen Impulsen und ihrer maschinellen Ausmerzung hat sich für Hecker in den letzten 15 Jahren als veritabler Karriereweg erwiesen.
Eigentlich dürfte "Anoyo" nicht mehr sein als eine Ehrenrunde auf diesem Weg. Das zehnte Album von Hecker erscheint nur wenige Monate nach dem neunten, es stammt aus denselben Aufnahmesessions in Tokio und greift auf die inzwischen bekannte Klangästhetik zurück. Die Geschichte der Popmusik wimmelt vor solchen Nachschiebe-Platten, die immer dann auftauchen, wenn es etwas zu gut läuft für eine Band oder einen Musiker. Aber was hat Hecker mit Popmusik oder ihrer Geschichte zu tun? Lieber nutzt er das kurze, scheinbar beiläufige "Anoyo", um ein neues Feingefühl im Zusammenspiel mit der Außenwelt zu demonstrieren.
Selten hat Hecker die Beiträge seiner Mitmusiker so zurückhaltend verfremdet wie hier. Oft spielen die Blas- und Saiteninstrumente des Gagaku-Ensembles ungehindert auf, gleich zwei der sechs Stücke untersuchen verschiedene Gewaltmaßnahmen im Umgang mit mannshohen Fasstrommeln. Das bewährte Hecker-Dröhnen ist auch noch da, eine Vorstellung von Ambient-Musik, die viel detailverliebter, schmutzbefleckter und rissiger erscheint als jene Soundtapeten, mit denen Spotify und Co. längst alle Lebensbereiche ihrer Kunden beschallen. Auf "Anoyo" begräbt dieses Dröhnen die Stücke aber nicht mehr unter sich. Es interagiert mit ihnen.
Hecker weist Richtungen für die Gagaku-Musiker auf, die diese ebenso effektvoll einschlagen wie unterwandern. Für Außenstehende mag das nicht nach viel klingen: ein bisschen Werkeln, Klöppeln und Schaben unter kunstbeflissenen Klangforschern. Eingeweihte erkennen den Sound der Experten aber auch auf "Anoyo" sofort. Hecker bleibt ihr Mann hinter den unheimlichen Maschinen. Ein absoluter Badass seines Genres. (7.9) Daniel Gerhardt
Preisabfragezeitpunkt
07.03.2021 07.52 Uhr
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Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)