Abgehört - neue Musik Durchhalten als Karriereprinzip
Natürlich konnte Julian Casablancas nicht ahnen, wie gut der Titel "The New Abnormal" in die Zeit passen würde. Allerdings hat sich der Strokes-Sänger den Albumtitel nur geborgt. Er stammt aus einem Zitat des damaligen Gouverneurs von Kalifornien, Jerry Brown, der die verheerenden Waldbrände in dem amerikanischen Bundesstaat als Symbol einer dauerhaft veränderten Normalität infolge des Klimawandels interpretierte.
Nun hat Casablancas vor einiger Zeit ein E-Bike konstruiert und führt Phänomene wie Pandemien, Klimawandel und überhaupt alles Übel der Welt auf die Macht internationaler Raubtierkonzerne zurück. "They got the remedy, they won't let it happen", singt er in "Eternal Summer" zu einem smoothen Discobeat. Der Refrain des Songs ist eine Variation von "The Ghost In You" (Psychedelic Furs), die zweite Hälfte eine Kakofonie aus dem collagenartigen Nervensägen-Rock der Casablancas-Zweitband The Voidz und einem Zitat aus "Another Brick In The Wall" (Pink Floyd).
Von der Fülle an Zitaten und stilistischen Querverweisen auf "The New Abnormal" darf man sich nicht abschrecken lassen. Die neun Songs versöhnen das Frühwerk der Strokes mit den offeneren Ansätzen späterer Alben. Casablancas wimmert, sprechsingt und krakeelt dazu endlich wieder Melodien, die man auf Anhieb mitsummen möchte. Auch wenn diese bisweilen von den Gitarren übertroffen werden oder andersrum – seit jeher das Merkmal aller guten Strokes-Songs.
Produziert wurde das Album, das erste seit "Comedown Machine" von 2013, von Rick Rubin, bekanntermaßen ein Spezialist in der Revitalisierung angeschlagener Karrieren. Wie zärtlich hingetupft Casablancas "The Adults Are Talking" singt, wie zurückgenommen die Band hier agiert: Rubins Ansatz, den Sturm und Drang der Strokes zugunsten eines reflektierten, mitunter melancholischen Ansatzes zu drosseln, ist aufgegangen.
"The Adults Are Talking", die New-Wave-Hommage "Brooklyn Bridge to Chorus" und das Generation X zitierende "Bad Decisions" sind hier die offensichtlichsten Strokes-Songs. Das heimliche Herzstück ist der von dem existenzialistischen Synthie-Stück "At The Door" eingeleitete zweite Teil des Albums. "Why Are Sunday's So Depressing?" ist eine lässig hingeworfene Ballade, "Not The Same Anymore" ein wehmütiges Epos – und mit dem an die Ronettes erinnernden Outro von "Ode To The Mets" erreicht der croonende Zweifler Casablancas seinen Höhepunkt.
Denn die neue Normalität des traditionell assoziativ textenden Sängers ist ein fragmentarisches Gebilde, aus dem sich ein weiterer Themenkomplex herausschälen lässt: Seine Sorge, zu genügen. In der Liebe, in der Musik und natürlich auch als bestimmender Teil der Strokes. "Time we lost, that's all my fault", singt er in "Selfless", "have I lost it all", fragt er bange in "At The Door", "I was afraid, I fucked up" konstatiert er in "Not The Same Anymore".
Und so gelingt den Strokes auf der Suche nach der verlorenen Zeit überraschend ihr konzisestes künstlerisches Statement seit sehr langen Jahren. (8.5) Torsten Groß
Als Teenager saß Lido Pimienta in ihrer Heimatstadt Barranquilla im Norden Kolumbiens und hörte Musik von Tricky, Portishead und Massive Attack, wie es Ende der Neunziger auch im urbanen Südamerika üblich war. Ihr Cousin, der Lidos gesangliche Ambitionen verfolgte, gab ihr dann irgendwann eine CD von Sexteto Tabala, eine damals aufstrebende lokale Cumbia-Band, in der er einer der Drummer war. Warum sie denn ihre schöne Stimme an diese depressive Musik von Weißen verschwenden würde, fragte er – und eröffnete seiner Cousine den Zugang zur traditionellen Folklore ihrer Heimat.
Erst jetzt, mit ihrem dritten Album "Miss Colombia", umarmt Lido Pimienta ihre Wurzeln komplett mit ihrer Kunst. Inzwischen lebt sie als alleinerziehende Mutter in Toronto, bezeichnet sich selbst als queer, ist studierte Kunstkritikerin. 2016 gewann sie mit ihrem Album "La Papessa" den kanadischen Polaris-Musikpreis, das Pendant zum Grammy. Die Tageszeitung "Globe and Mail" nannte sie damals die Zukunft des kanadischen Rock 'n' Rolls. Vielleicht war es diese Bestätigung, die der heute 34-jährigen Musikerin fehlte, um mit neuem Selbstbewusstsein in die musikalische Erforschung ihrer Identität einzutauchen.
"Miss Colombia" ist weniger elektronisch-experimentell als "La Papessa", aber dafür ruht es sehr eindrucksvoll in seinen Themen und seinen melancholischen Grooves. Es gliedert sich in einen anschmiegsamen "Sol"-Teil, der Pimientas westliche Prägung mit modernen Latinpop-Melodien spiegelt. "Nada", zusammen mit der kolumbianischen Kollegin Li Saumet" gesungen, ist trotz seines traurigen Inhalts, es geht um Entfremdung und Verzweiflung, ein sanfter Radiohit, den man auf einem so anspruchsvollen Alternative-Album gar nicht erwarten würde. Es macht Pimientas eindrucksvolle Bandbreite nur noch deutlicher.
Im "Luna"-Teil des Albums findet Pimienta erneut mit dem Sexteto Tabala zusammen, das sie in der Vergangenheit bereits auf Tournee begleitete. Bandleader Rafael Cassiani, eine kulturelle Instanz in Kolumbien, darf ein zweiminütiges Spoken-Word-Interludium auf Spanisch bestreiten, dann geht es tief hinein in die leidvollen Rassismuserfahrungen der afro-kolumbianischen Minderheit, zu der auch Pimienta gehört. Sie hat zudem indigene Wayuu-Wurzeln. "Pelo Cucu" feiert die Naturkrause ihrer Haare ähnlich wie Solanges "Don't Touch My Hair" mit traditionellen Afro-Chören und Perkussion. "Resisto Y Ya" ist eine Widerstandshymne für die seit Monaten schwelenden sozialen Unruhen gegen den konservativen Präsidenten Duque.