Abgehört - neue Musik Durchhalten als Karriereprinzip

Widerständige New Yorker: Den Strokes gelingt eines ihrer besten Alben seit Jahren, Hamilton Leithauser singt seiner City Durchhalte-Songs. Außerdem: Neue Musik von Lido Pimienta und Shabazz Palaces. Das sind die Alben der Woche.

Natürlich konnte Julian Casablancas nicht ahnen, wie gut der Titel "The New Abnormal" in die Zeit passen würde. Allerdings hat sich der Strokes-Sänger den Albumtitel nur geborgt. Er stammt aus einem Zitat des damaligen Gouverneurs von Kalifornien, Jerry Brown, der die verheerenden Waldbrände in dem amerikanischen Bundesstaat als Symbol einer dauerhaft veränderten Normalität infolge des Klimawandels interpretierte.

Nun hat Casablancas vor einiger Zeit ein E-Bike konstruiert und führt Phänomene wie Pandemien, Klimawandel und überhaupt alles Übel der Welt auf die Macht internationaler Raubtierkonzerne zurück. "They got the remedy, they won't let it happen", singt er in "Eternal Summer" zu einem smoothen Discobeat. Der Refrain des Songs ist eine Variation von "The Ghost In You" (Psychedelic Furs), die zweite Hälfte eine Kakofonie aus dem collagenartigen Nervensägen-Rock der Casablancas-Zweitband The Voidz und einem Zitat aus "Another Brick In The Wall" (Pink Floyd).

Von der Fülle an Zitaten und stilistischen Querverweisen auf "The New Abnormal" darf man sich nicht abschrecken lassen. Die neun Songs versöhnen das Frühwerk der Strokes mit den offeneren Ansätzen späterer Alben. Casablancas wimmert, sprechsingt und krakeelt dazu endlich wieder Melodien, die man auf Anhieb mitsummen möchte. Auch wenn diese bisweilen von den Gitarren übertroffen werden oder andersrum – seit jeher das Merkmal aller guten Strokes-Songs.

Produziert wurde das Album, das erste seit "Comedown Machine" von 2013, von Rick Rubin, bekanntermaßen ein Spezialist in der Revitalisierung angeschlagener Karrieren. Wie zärtlich hingetupft Casablancas "The Adults Are Talking" singt, wie zurückgenommen die Band hier agiert: Rubins Ansatz, den Sturm und Drang der Strokes zugunsten eines reflektierten, mitunter melancholischen Ansatzes zu drosseln, ist aufgegangen.

"The Adults Are Talking", die New-Wave-Hommage "Brooklyn Bridge to Chorus" und das Generation X zitierende "Bad Decisions" sind hier die offensichtlichsten Strokes-Songs. Das heimliche Herzstück ist der von dem existenzialistischen Synthie-Stück "At The Door" eingeleitete zweite Teil des Albums. "Why Are Sunday's So Depressing?" ist eine lässig hingeworfene Ballade, "Not The Same Anymore" ein wehmütiges Epos – und mit dem an die Ronettes erinnernden Outro von "Ode To The Mets" erreicht der croonende Zweifler Casablancas seinen Höhepunkt.

Denn die neue Normalität des traditionell assoziativ textenden Sängers ist ein fragmentarisches Gebilde, aus dem sich ein weiterer Themenkomplex herausschälen lässt: Seine Sorge, zu genügen. In der Liebe, in der Musik und natürlich auch als bestimmender Teil der Strokes. "Time we lost, that's all my fault", singt er in "Selfless", "have I lost it all", fragt er bange in "At The Door", "I was afraid, I fucked up" konstatiert er in "Not The Same Anymore".

Und so gelingt den Strokes auf der Suche nach der verlorenen Zeit überraschend ihr konzisestes künstlerisches Statement seit sehr langen Jahren. (8.5) Torsten Groß

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Als Teenager saß Lido Pimienta in ihrer Heimatstadt Barranquilla im Norden Kolumbiens und hörte Musik von Tricky, Portishead und Massive Attack, wie es Ende der Neunziger auch im urbanen Südamerika üblich war. Ihr Cousin, der Lidos gesangliche Ambitionen verfolgte, gab ihr dann irgendwann eine CD von Sexteto Tabala, eine damals aufstrebende lokale Cumbia-Band, in der er einer der Drummer war. Warum sie denn ihre schöne Stimme an diese depressive Musik von Weißen verschwenden würde, fragte er – und eröffnete seiner Cousine den Zugang zur traditionellen Folklore ihrer Heimat.

Erst jetzt, mit ihrem dritten Album "Miss Colombia", umarmt Lido Pimienta ihre Wurzeln komplett mit ihrer Kunst. Inzwischen lebt sie als alleinerziehende Mutter in Toronto, bezeichnet sich selbst als queer, ist studierte Kunstkritikerin. 2016 gewann sie mit ihrem Album "La Papessa" den kanadischen Polaris-Musikpreis, das Pendant zum Grammy. Die Tageszeitung "Globe and Mail" nannte sie damals die Zukunft des kanadischen Rock 'n' Rolls. Vielleicht war es diese Bestätigung, die der heute 34-jährigen Musikerin fehlte, um mit neuem Selbstbewusstsein in die musikalische Erforschung ihrer Identität einzutauchen.

"Miss Colombia" ist weniger elektronisch-experimentell als "La Papessa", aber dafür ruht es sehr eindrucksvoll in seinen Themen und seinen melancholischen Grooves. Es gliedert sich in einen anschmiegsamen "Sol"-Teil, der Pimientas westliche Prägung mit modernen Latinpop-Melodien spiegelt. "Nada", zusammen mit der kolumbianischen Kollegin Li Saumet" gesungen, ist trotz seines traurigen Inhalts, es geht um Entfremdung und Verzweiflung, ein sanfter Radiohit, den man auf einem so anspruchsvollen Alternative-Album gar nicht erwarten würde. Es macht Pimientas eindrucksvolle Bandbreite nur noch deutlicher.

Im "Luna"-Teil des Albums findet Pimienta erneut mit dem Sexteto Tabala zusammen, das sie in der Vergangenheit bereits auf Tournee begleitete. Bandleader Rafael Cassiani, eine kulturelle Instanz in Kolumbien, darf ein zweiminütiges Spoken-Word-Interludium auf Spanisch bestreiten, dann geht es tief hinein in die leidvollen Rassismuserfahrungen der afro-kolumbianischen Minderheit, zu der auch Pimienta gehört. Sie hat zudem indigene Wayuu-Wurzeln. "Pelo Cucu" feiert die Naturkrause ihrer Haare ähnlich wie Solanges "Don't Touch My Hair" mit traditionellen Afro-Chören und Perkussion. "Resisto Y Ya" ist eine Widerstandshymne für die seit Monaten schwelenden sozialen Unruhen gegen den konservativen Präsidenten Duque.

Ein "zynischer Liebesbrief" an Kolumbien sei "Miss Columbia", sagte Pimienta in einem Interview. Der Titel bezieht sich auf die Miss-Universe-Wahl von 2015, als der Moderator irrtümlicherweise die Teilnehmerin aus Kolumbien statt der philippinischen Kandidatin als Siegerin ausrief. Sie habe sich für die Empörung ihrer Landsleute geschämt, die die Schönheit der kolumbianischen Frauen verteidigten, während Indigene und Afro-Kolumbianerinnen gesellschaftlich marginalisiert und diskriminiert würden. Auf dem Cover ihres ergreifenden Emanzipationsalbums inszeniert sie, die Exilantin und Außenseiterin, sich nun provokant in der Pose der Jungfrau Maria, Ikone der Schönheit und Unschuld.

Ihre elektronischen Pop-Einflüsse, die von Trip-Hop bis Björk reichen, verschmelzen mit Folklore-Stilen wie Cumbia, Bullerengue und Porro-Elementen zu einem leidenschaftlichen Klagegesang, der an die ähnlich motivierten Traditions-Erneuerungen und Latina-Ermächtigungen der Spanierin Rosalía erinnern. "Para transcribir" heißen die Song-Klammern, die "Miss Colombia" einrahmen, aber eine Übersetzung brauchen diese Songs nicht, um Eleganz, Anmut, Kraft und Resilienz zu vermitteln. (8.0) Andreas Borcholte

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Wenn die Gegenwart nervt, braucht der Mensch Utopien. Blöd nur, dass sogar der Gedanke an die Zukunft keinen Spaß mehr macht: Die Aussicht auf den drohenden Klimakollaps verstellt den Blick in ein schöneres Morgen, und allerspätestens seit dem NSA-Skandal hat auch der Glauben an die progressive Kraft der Technik ihre Unschuld verloren. Insofern dürfte eigentlich jetzt, da die Apokalypsenstimmung regiert, (noch einmal) die Stunde des Duos Shabazz Palaces schlagen.

Ihr fulminantes Album "Lese Majesty" von 2014 klang, trotz gesellschaftskritischer Ambitionen, nach einer Zeit, in der die Zukunft noch silbern leuchtete. Zu sirupartigem, böse funkelndem Dub und kosmischem Funk reanimierten Ishmael Butler und Tendai "Baba" Maraire aus Seattle den (Afro-)Futurismus: mal als sein eigenes Klischee mit Sci-Fi- und Uralt-Computersounds, mal als Antwort auf die Regressivität von Machismo und Konsumismus im Hip-Hop der Gegenwart.

Auch ihr fünftes Album "The Don Of Diamond Dreams" ist beseelt vom Erfindergeist der Science-Fiction-Schriftstellerin Octavia Butler, von Sun Ra und allerhand Psychedelika. Im Song "Ad Ventures" begibt sich der titelgebende "Don Of Diamond Dreams", angetrieben von Chants und strengen Drums, auf den Marsch in die glorios gestrig inszenierte Zukunft. "Money Yoga" ist eine Art halluzinogener R&B-Entwurf mit nebligen Synthesizersounds, die Single "Fast Learner" klingt trotz des verhallten, monumentalen Schlagzeugs nicht weniger trippy. Und im blubbernden "Wet" wird ein Trap-Track in der Tiefsee versenkt.

Wie zuletzt auf dem Konzeptalben-Doppel "Quazarz: Born on a Gangster Star" und "Quazarz vs. The Jealous Machines" von 2017 geben Shabazz Palaces auch hier den Männlichkeitsritualen im Hip-Hop ordentlich eine mit. Im Song "Bad Bitch Walking" folgt auf eine triefäugige Eloge an die Schönheit des Lovers das Eingeständnis: "I don't get bitches, but they get me." So viel plakative Unbedarftheit der alten Schule – inklusive eines kleinen Seitenhiebs auf Kanye West – kann sich nur erlauben, wer fix wieder ins Raumschiff zum Planeten Conscious Rap steigen wird. Es ist ein guter Witz, aber einer, den man von Shabazz Palaces erwartet und kennt.

Überhaupt lässt das extravagant und passgenau geschneiderte Outfit der beiden wenig Spielraum für Ausfallschritte, sondern nur für sachte Veränderungen: Ihr gut informierter, die Vergangenheit und die Zukunft absorbierender Sound klingt auf diesem Album weniger skizzenhaft, dennoch bleiben Butler und Maraire One-Trick-Ponys. Aber das stört nicht ernstlich, wenn das bewährte Kunststück so spektakulär ist. (7.8) Julia Lorenz

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Hamilton Leithauser ist so sehr New York, dass man ihn zusammenfalten und verdrücken will wie ein Stück Pizza. Seit 20 Jahren gehört der Songwriter zu den prägenden Figuren der Rockmusik seiner Stadt. Als Sänger von The Walkmen unterhielt er das ultimative Geheimtippprojekt: eine Band, die manchen Plattensammel-Nerds und Kritikern als beste des Retro-Rock-Booms der Nullerjahre galt, aber stets zu stur und schrullig blieb für den ganz großen Erfolg. Seit 2014 liegt die glücklose Gruppe auf Eis. Leithauser machte weiter und brachte zuletzt ein Aussteiger-Album mit Rostam Batmanglij heraus, dem ehemaligen Soundzauberer von Vampire Weekend.

Auf "The Loves Of Your Life" ist er nun wieder Solokünstler und besingt eine Idee von New York, die zunehmend hinter die Grenzen der Metropole zurückgedrängt wird. In Leithausers Songs ist die Stadt ein Paradies der Miesepeter, Künstlerseelen und sonstigen Sonderlinge. Ein romantischer Ort, der nicht zuletzt deshalb existieren kann, weil sich Menschen auf kreative Weise durch den Alltag schummeln und im Zweifel das Vermögen ihrer Eltern anzapfen können. Leithauser erzählt von diesen Menschen und ihren Stunts mit einer Mischung aus Hochachtung und Verblüffung. Bereits im Vorfeld verriet er, dass alle Stücke seines neuen Albums von echten, aufrechten, tragischen New Yorkerinnen und New Yorkern handeln.

"Isabella" ist der Star dieses Ensembles: eine ewige Träumerin und Studentin, die noch immer durch die Nächte und Bars eines Manhattans geistert, das längst den Brokern und Fondsmanagern von der Wall Street gehört. Leithauser widmet ihr ein außerordentlich herzliches Lied, für das er sogar seine charakteristische Grundgenervtheit kurz herunterfährt. Klavier und Slidegitarre verschaukeln einander, der vergnügte Bass überspringt kleinere Hindernisse und das Schlagzeug klingt nach Schuhkarton – bis ein Chor der Freunde und Familienmitglieder "Isabella" sicher nach Hause singt. Schöner ist schon lange kein Song mehr mitsamt seiner Heldin auseinandergefallen.

Weil wir uns aber in New York befinden, kann die Sache natürlich nicht immer so glimpflich ausgehen. Leithausers wichtigstes Merkmal ist auch auf "The Loves Of Your Life" seine Stimme: ein leidgeprüftes Instrument, das er effektvoll ins Nebelkrähige auszudehnen versteht. In den weniger versöhnlichen Momenten des Albums verbindet Leithauser diesen Gesang mit einem strengen Blick auf die Niederlagen seiner Figuren und den Bullshit, den sie verzapfen. Er ist sicher kein Comedian, teilt sich aber zumindest den Missmut und das Gequälte mit solchen NYC-Chronisten wie George Costanza aus der Serie "Seinfeld" oder dem mittelalten Louis C.K., der sich noch nicht in Ungnade masturbiert hatte.

18 Jahre nach dem Debütalbum seiner Band ist Leithauser damit ausnahmsweise zur richtigen Zeit zur Stelle. Timing war immer eine Schwäche von The Walkmen: Entweder nahmen sie Trends vorweg, die andere später zu Geld machten, oder sie verspielten das hart erkämpfte Wohlwollen ihres Publikums gleich wieder mit merkwürdigen Seitenprojekten. Diesmal aber singt der Mann, der das Durchhalten zum Karriereprinzip erhoben hat, genau die kratzigen Folkrocksongs, die seine Stadt gerade gebrauchen kann. Ein schwacher Trost, aber kein ganz unwichtiger. (8.2) Daniel Gerhardt

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

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