Neues Album von The Weeknd Der Bad Boy ist geläutert

Mit »Blinding Lights« hatte er einen der größten Hits der letzten Jahre, jetzt will The Weeknd endgültig zum neuen King of Pop werden – mit seinem neuen Album »Dawn FM« schraubt er am eigenen Mythos.
Künstler The Weeknd: Musikalischer Fährmann

Künstler The Weeknd: Musikalischer Fährmann

Foto: Universal Music

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Auf dem Cover von »Dawn FM« sieht Abel Tesfaye so aus, wie sich viele von uns nach den langen Monaten der Pandemie wahrscheinlich fühlen: Um Jahre gealtert, verzweifelt im Blick, verhärmt im Gesicht, die Haare vorzeitig ergraut.

Man soll sich vorstellen, dass die Hörerinnen und Hörer seiner neuen Platte bereits tot sind, sagte Tesfaye kürzlich in einem Interview mit dem US-Magazin »Billboard«. »Sie stecken in diesem Zustand des Fegefeuers fest, den ich mir immer so vorstelle, als stünde man im Stau und würde auf das Licht am Ende des Tunnels warten. Und während man im Verkehr feststeckt, läuft im Auto ein Radiosender mit einem Radiomoderator, der einem beim Übergang auf die andere Seite hilft. Es könnte sich also feierlich anfühlen, es könnte sich düster anfühlen, wie auch immer man es ausdrücken möchte, aber das ist es, was ›The Dawn‹ für mich ist.«

Die erste Hälfte des Albums ist brillant

Der 31-jährige Kanadier inszeniert sich als eine Art Charon, ein musikalischer Fährmann, der sein Publikum nicht auf dem Weg in den Hades begleitet, sondern zurück ins Leben. Viele Songs seines neuen Albums handeln davon, Dämonen zu bannen, mit schlechtem Gewissen über Fehlverhalten und Missgriffe ins Reine zu kommen. Vor allem im Zusammenspiel mit früheren und aktuellen Partnerinnen, aber auch in Bezug auf Drogen und Depressionen.

Die Dämmerungsandacht (Dawn = Morgengrauen) wird immer wieder auch zum Selbsthilferatgeber. Schauspieler und Comedian Jim Carrey gibt den beruhigend raunenden, aber auch sinister verführenden Radio-DJ, der die Stücke von »Dawn FM« zwischen den Songs zu einem Flow zusammenbindet.

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Die erste Hälfte des Albums ist brillant. In »Gasoline« singt Tesfaye mit einem mokant britischen Akzent, man erkennt ihn kaum wieder. Dazu klappern und zischen Synthie-Sounds, die klingen, als wären sie in den frühen Achtzigern entstanden.

Damit bleibt The Weeknd dem in seinem Hit-Album »After Hours« gesetzten Referenzspektrum treu – angereichert mit den hypermodernen, nervösen Science-Fiction-Mätzchen des ebenfalls kanadischen Elektronik- und Experimental-Musikers Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never, der die meisten Songs des Albums produzierte. Von Steve Winwoods »Arc Of A Diver« über britischen Synth- und New-Romantic-Pop bis zu Hi-NRG, R&B-Balladen von Shalamar und dem »Ghostbusters«-Soundtrack ist hier alles drin, was der Achtziger-Retro-Trend gerade hergibt.

»Beat It« lässt grüßen

»How Do I Make You Love Me« und »Take My Breath«, beide vom schwedischen Hit-Produzenten Max Martin bzw. dem Dance-Projekt Swedish House Mafia geschrieben, sind die sicheren Charthits des Albums, düster und treibend, aber in den Refrains hell funkelnd und erlösend – so nah an »Billie Jean« kam The Weeknd bisher noch nicht heran.

Zwar wird im Verlauf des Albums gleich mehrmals die US-Rockgruppe R.E.M. genannt und zitiert, doch was Tesfaye wohl intensiver gehört hat, sind die Erfolgsalben von Michael Jackson: »Off The Wall« und »Thriller« sind die Paten von »Dawn FM«; The Weeknd greift jetzt selbstbewusst nach dem Titel des King of Pop. »Sacrifice« (wieder mit diesem komischen Akzent) spielt sogar mit einem verfremdeten Gitarrenmotiv, »Beat It« lässt grüßen.

Und in der Mitte des Albums kommt sogar Jackson-Produzent Quincy Jones mit einem reumütigen Blick in seine persönlichen Beziehungstraumata zu Wort. »Looking back is a bitch, isn’t it«, fragt Tesfaye am Ende rhetorisch. Jones muss kichern. Ein gegenseitiges Schulterklopfen zweier Soul-Männer, die sich selbst offenbar viel zu verzeihen haben.

Album-Cover von »Dawn FM«: Gezeichnet von der Pandemie

Album-Cover von »Dawn FM«: Gezeichnet von der Pandemie

Foto: Chris Saraiva

Die Karriere von The Weeknd begann vor gut einem Jahrzehnt in der Unterwelt des Pop. Mit seelenschürfendem Alternative-R&B, in dessen Texten es um schnellen Sex und Glastische voller weißer Pülverchen ging, machte er sich einen Namen. Allerdings trat er zunächst anonym auf. Seine enigmatische Öffentlichkeitsscheu bewahrte er sich auch noch, als er Mitte der Zehnerjahre mit Hits wie »Can’t Feel My Face« längst ein »motherfuckin' Starboy« war, wie er sich im Titelsong seines Albums von 2016 so sarkastisch wie selbstironisch nannte.

Tesfaye inszeniert sich als verletzlicher Antiheld und ist vielleicht gerade deswegen prädestiniert, auf Jahre hinweg ein Pop-Superstar zu bleiben – der Zeitgeist liebt diese gebrochenen Typen, die kaputt sind und in ihrer Musik darum barmen, trotzdem geliebt zu werden.

Inzwischen ist Tesfaye ein begnadeter Entertainer mit einer starken, künstlerischen Vision, in seinen Songs und Videos thematisiert er aber immer wieder auch die Kehrseiten des Ruhms, die Verführungen des Luxus-Lebensstils und seine eigenen Charakterschwächen, die ihn zum »Bad Boy« werden ließen. Für glatte, knuffige Erfolgstypen gibt es in seiner Welt, im Schatten der Neonlichter, keinen Platz.

Zur Meisterschaft brachte Tesfaye diese Inszenierung mit »After Hours«, 2020 kurz vor Ausbruch der Pandemie veröffentlicht. In den inhaltlich zusammenhängenden Videoclips zum Album zitiert er Horrorfilme, die Gangsterepen von Martin Scorsese und Loser-Balladen wie »Leaving Las Vegas«. Sie zeigen einen Partylöwen, der in immer bedrohlichere nächtliche Zwischenfälle und mysteriöse Zusammenhänge gerät, bis er am Ende ganz verprügelt und zerschunden ist.

Zum Abschluss trat er mit komplett bandagiertem Kopf auf, als hätte er selbst, ein Prügelknabe des Pop, die Verletzungen seines Protagonisten erfahren – und veröffentlichte ein Foto, auf dem er wie durch Schönheitsoperationen verunstaltet wirkte. Ein bissiger Kommentar zum Body Horror und den Metamorphosen Michael Jacksons, dem er nun ganz offen nacheifert? Mit dem Superstar der Achtzigerjahre verbindet Tesfaye auch das Stilbewusstsein. Dutzende rote Anzüge ließ sich Tesfaye für seine »After Hours«-Rolle schneidern – ein Markenzeichen wie einst Jacksons rote Lederjacke oder der Glitzerhandschuh.

Tesfaye plant eine eigene Serie

Nach dem Trip durch die Hölle der Spielcasinos und einer brutalen Nacht soll nun also die Heilung folgen, der Aufstieg zum Licht, auf dem Pop-Olymp ist The Weeknd ohnehin schon angekommen. Seine Single »Blinding Lights« stieß im vergangenen Jahr den ewigen Spitzenreiter »The Twist« von Chubby Checker, eine Single von 1960, vom Thron der »Greatest Hot 100 of All Time« der maßgeblichen »Billboard«-Charts. Tesfaye trat letztes Jahr als Show-Act in der Halbzeitpause des Super Bowl auf und wird bei seiner kommenden Tournee, wenn sie denn wie geplant stattfinden kann, erstmals Stadien füllen.

TV-Wettermann Al Roker als The-Weeknd-Imitator bei einem Auftritt im Oktober 2021: Markant wie einst Jacksons rotes Lederjäckchen

TV-Wettermann Al Roker als The-Weeknd-Imitator bei einem Auftritt im Oktober 2021: Markant wie einst Jacksons rotes Lederjäckchen

Foto: NBC / NBCU Photo Bank via Getty Images

Wie kaum ein anderer zeitgenössischer Star hat er verinnerlicht, dass es heute nicht ausreicht, eine Sammlung guter Songs zu haben und sie auf den einschlägigen Streamingdiensten zu veröffentlichen. Die Musik muss gut sein, aber die zugehörige Erzählung ist fast noch wichtiger.

»After Hours« wirkte bereits wie eine TV-Serie, zu der es halt auch einen Soundtrack gab. Längst plant Tesfaye auch eine eigene, sechsteilige Serie für den Sender HBO. »The Idol« soll im Nachtleben von L.A. spielen und von einem Selbsthilfeguru und Sektenführer handeln, dem ein aufstrebendes Pop-Sternchen verfällt. Da lauern schon wieder die Abgründe.

»Dawn FM« gerät ihm allerdings fast schon zu versöhnlich. Nach der klassischen, aber umwerfenden Soul-Ballade »Out Of Time« und dem zarten Liebeslied »Here We Go… Again« (mit Tyler, The Creator) verliert das Album seinen Drive und versuppt in einer Reihe von liebestrunkener Pop-Tunes, zu denen man prima im Pendelverkehr auf der Autobahn grooven kann, die aber ohne viel Nachhall vorbeirauschen.

Ungenießbar wird es kurz vor Schluss, wenn Rapper Lil Wayne in der Gehörnten-Suada »I Heard You’re Married« einen unnötig misogynen Gastauftritt hat, der zur sich nach Läuterung sehnenden neuen Rolle Tesfayes nicht mehr passt. »Less Than Zero« ist danach ein weiteres Max-Martin-Produkt, das die Pop-Hooks jedoch ins allzu Süßliche überdreht. Man wird noch einmal in die Achtziger versetzt und an Cock Robin und andere vergessene One-Hit-Wonder erinnert. Hoffentlich ist das kein Ausblick in die musikalische Zukunft von The Weeknd.

Tesfaye habe die Fähigkeit, etwas cool, edgy und riskant zu machen, aber auch kinderfreundlich, schwärmte sein langjähriger Manager kürzlich in einem Interview. Das hätte Quincy Jones einst auch über Michael Jackson sagen können.

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