Abgehört - neue Musik Es ist grässlich, es ist toll

Das neue Album von The Weeknd ist ein Thriller voller Zumutungen und Erlösung. Außerdem: das späte Debüt von Rapper Jay Electronica, Hip-Hop-Umdeutungen von Zebra Katz und ein postheroisches Pop-Duo.
The Weeknd - "After Hours"

(Republic (Universal Music), seit 20. März)

Abel Tesfaye ist ein motherfucking "Starboy", so hieß seine sehr slicke und bombastische letzte LP, die den Superstar-Status von The Weeknd vor vier Jahren im zeitgenössischen Pop etablierte. Mit 30 Jahren muss sich Tesfaye nun eigentlich nichts mehr beweisen, "After Hours", sein viertes reguläres Album binnen sieben Jahren, hätte also großer Murks werden können - oder große Kunst. Faszinierenderweise ist es beides.

Denn in der Unentschiedenheit, die sich durch diese knappe Stunde Musik zieht, offenbart sich eben auch die große Verletzlichkeit und Fehlbarkeit des Musikers The Weeknd, der ja immer schon ein mutwilliger Grenzgänger und Außenseiter war, seit er 2011 mit drei hintereinander veröffentlichten Mixtapes dem belanglos gewordenen R&B-Genre Abgründigkeit, suizidale Depression und existenzielle Düsternis einhauchte.

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Das blutrünstige, an einen Vampir erinnernde Foto von Tesfaye auf dem Cover von "After Hours" bringt die letzten zehn Jahre seiner Karriere auf den Punkt: The Weeknd, auch wenn er inzwischen als Lichtgestalt in großen TV-Shows auftritt und Megahits in den Charts verbuchen konnte, ist ein Geschöpf der Nacht geblieben, ein Schattenmann, der selten und ungern Interviews gibt und sein Image als selbstzerstörerischer, frauenverschlingender Bad Boy zu pflegen weiß. Dieses unberechenbar Animalische und Mitternächtliche setzt ihn von den anderen, ebenso sensiblen Erneuerern seines Genres, darunter Frank Ocean und James Blake, ab und rückt ihn trotz aller musikalischen Zartheit in die Nähe von virilen, ambivalenten Soul-Männern wie Marvin Gaye.

Diese Spannung zwischen dem Creep und dem Crooner wird auf "After Hours" zum Thriller, der einen an den Kopfhörer zu fesseln vermag. Die stilistische Bandbreite ist enorm, sie reicht von den sakralen, an Pop-Avantgardisten wie Arca erinnernden Elektroniksphären von "Alone Again" über lässig hingeworfene Swingbeat- und Drum'n'Bass-Etüden wie "Too Late" und "Hardest To Love" - bis zur Mainstream-Rockballade "Scared To Live", die schamlos den klapperdürren Schunkelrhythmus von Chris DeBurghs "Lady In Red" mit Bryan Adams' "Heaven"-Opulenz zusammenwürgt. Es ist grässlich. Es ist toll.

Mitverantwortlich für solche garantierten Weeknd-Chartstürmer ist erneut der schwedische Hitfabrikant Max Martin, der auch einen Gutteil der Instrumente des Albums einspielte. Von ihm stammt auch die Synthiepop-Single "Blinding Lights", die zuletzt auch in Deutschland Nummer eins war. Während sich dieser entwaffnende Smasher an Laura Branigan und Sandra vergeht, klingt das danach folgende "In Your Eyes" wie ein von Dieter Bohlen produzierter Erasure-Song - mit Saxofon-Solo, logisch. Komplettiert wird dieses infernalische Trio von "Save Your Tears", einer ebenfalls in die Achtziger ausgreifenden Schimäre aus Cock Robin und Electric Light Orchestra. Dass sich Tesfaye in den Texten dieser Songs wie immer ausgiebig selbst bemitleidet, ist schon fast egal, die Musik allein saugt einem schon genug Seele und Lebensenergie ab.

Aber auf jedes "Blinding Lights" (was natürlich brillant ist) kommt eben auch ein "Heartless" und ein "Faith" - immens wirkungsvolle Albumhöhepunkte, die das splittrige Funkeln früherer, brüchigerer Weeknd-Tracks erinnern und auch musikalisch zu den weniger rundumversicherten Anfängen zurückgehen. Mit dieser packenden Rückbesinnung endet das Album dann auch. Die klanglich schön vertrackte Ballade "Repeat After Me" (von Experimentier-Elektroniker Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never mitproduziert) bildet die Rampe für das geisterhafte Titelstück, dessen unterkühlte Verzweiflung einem das verbliebene Blut in den Adern gefrieren lässt. Den Schluss bildet "Until I Bleed Out" (ebenfalls mit OPN-Beteiligung), ein mit Synthie-Gitarrensolo in höchste narzisstische Persönlichkeitsstörungen emporgniedelndes "Purple Rain" für diesen finsteren Prinzen. "I keep telling myself I don’t need it anymore", singt er darin flehentlich. Aber er ist halt immer noch druff auf der Ich-Droge. Mit "After Hours", dem Break-up-Album von The Weeknd, wollte sich der Starboy von sich selbst trennen. Hat zum Glück nicht geklappt. (8.9) Andreas Borcholte

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Zebra Katz - "Less Is Moor"

(ZFK Records, seit 20. März)

Irgendwer hat sich tatsächlich die Mühe gemacht, nachzuzählen: Ganze 87 Mal droppte Zebra Katz in seinem Aus-dem-Nichts-Hit "Ima Read" das Wort "Bitch". Ein skelettierter Beat, vier Minuten Hip-Hop-Hypnose und ein Schimpfwort-Overkill - 2012 war das eine Sensation und selbst für Rap-Standards ziemlich dick aufgetragen. Mit Kalkül natürlich. Katz gebrauchte die Standardvokabel aus dem misogynen Reim-Repertoire so exzessiv, dass sie am Ende nichts mehr wert war, und brachte sie mit einer Genre-fremden Battle-Kultur in Verbindung: den Tanzwettkämpfen der queeren Ballroom Culture.

Knapp acht Jahre ist das her. Katz hat sich inzwischen als Gastsänger auf dem Gorillaz-Album "Humanz" vergnügt und das B-Wörtchen als positive Selbstzuschreibung vereinnahmt. "Yeah, I'm that bitch, but they already know", stellt er auf seinem ersten vollwertigen Album klar. Auch dessen Titel ist eine Aneignung und ein Spiel mit rassistischen Zuschreibungen: "Less Is Moor", also verkehrt herum übersetzt: Der Mohr ist weniger.

Zebra Katz ist schwarz, schwul, in den USA als Sohn jamaikanischer Einwanderer aufgewachsen und heute immer so lange im Berghain zu Hause, bis er beschließt, sich möglichst effektvoll eigenhändig rauszuschmeißen. Zumindest berichtet das der Icherzähler im Song "Zad Drumz", der Techno und Drum'n'Bass in diversen Druffi-Stadien durchdekliniert. Nach "Ima Read" wurde Katz reflexhaft als einer jener Rapper mit Federboa und Kunstdiplom einsortiert, die sich offensiv zu ihrer nicht-binären Identität bekannten und den größten Spaß dabei hatten, queeren Sex in Dicke-Hose-Pose zu verpacken. Die Freude daran steht auf "Less Is Moor" nach wie vor im Zentrum, auch wenn sie oft mit einem ziemlich fiesen Unterton daherkommt. Aber mit Hip-Hop allein ist das Album nicht zu fassen.

Katz ist als Schnelltextakrobat immer noch beeindruckend präzise. Er spielt immer noch mit Rap-Klischees. Musikalisch bedient er sich allerdings lieber bei allem, was in der Clubmusik nicht niet- und nagelfest ist und richtig Radau macht: Breakbeat-Geratter, Booty Bass, Digital Hardcore. In Momenten, in denen Katz bierernst den Entertainer mimt, schmeckt das manchmal ein wenig abgestanden. Klar, er bringt auch Leerlaufzeilen wie "All I wanna do is keep the dance floor jumping" zu Post-Electroclash-Gerummse perfekt in Form. Aufregender wird es aber, wenn Katz auch dem eigenen Partytiger mal auf die Pfoten haut.

Mittendrin packt Katz einmal eine Folkgitarre aus und macht sich komplett nackig. "Ain't no diamonds on my necklace", raunzt er. Keine Diamanten auf der Brust - weiter kann ein Rapper sich nicht entblößen, egal wie viele Klunker er auf seinem Albumcover auch spazieren trägt. Da ist er also wieder, der Dreh, der "Ima Read" so großartig machte: die Ent- und Umwertung aller Werte. (7.4) Arno Raffeiner

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Jay Electronica - "A Written Testimony"

(Roc Nation, LLC, seit 13. März)

Ein Debütalbum im Alter von 43 Jahren: Jay Electronica lässt sogar berühmte Popstar-Spätstarter wie Leonard Cohen jung aussehen. Seit 2007 ist der Rapper und Produzent aus New Orleans, der eigentlich Elpadaro F. Electronica Allah heißt, aktiv. Sein bisher veröffentlichtes Schaffen beschränkte sich bis vor wenigen Tagen jedoch auf ein 15-minütiges Mixtape, zwei Singles (darunter das exzellente "Exhibit C") und etwa zwei Dutzend Gast-Strophen für andere Künstlerinnen und Künstler. Mit einer Materialmenge, die manche Rapper pro Quartal raushauen, hat sich Jay Electronica als ebenso schillernde wie bestens vernetzte Persönlichkeit im US-Hip-Hop etabliert.

"A Written Testimony" fühlt sich auch deshalb wie die Ehrenrunde nach einem gewonnen 10.000-Meter-Rennen an. Acht der zehn Tracks enthalten Gastauftritte von Jay-Z, weitere Features stammen vom Trap-Influencer Travis Scott und dem hochdekorierten Soulsänger The-Dream. Zusammen bringen es die beteiligten Musiker und Produzenten auf mehr als 30 Grammys - und doch sind jede Zeile und jeder Beat darauf zugeschnitten, Jay Electronica endlich zu dem Star zu machen, der er in den Augen seiner Weggefährten längst ist. Große Feierlichkeit liegt über "A Written Testimony", aber auch eine Luftigkeit, die ungewöhnlich ist für Event-Alben wie dieses.

Wann gab es zuletzt eine Rap-Platte, auf der Gitarren, Holz- und Metallstabspiele sowie Akkordeon ebenso tonangebend erschienen wie die Bassdrum? Wer sonst bringt Samples von James Blake, Vashti Bunyan und der Houstoner Psychrockband Khruangbin auf derselben LP unter? Wieso klingt "A Written Testimony" trotz seiner Instrumentierung und intergalaktischen Themen nicht wie transzendentale Tanzmusik für Hip-Hop-Hippies? Und wie rettet man ein Album, das mit einer Rede des Nation-Of-Islam-Anführers Louis Farrakhan beginnt?

Farrakhan ist berüchtigt als Anhänger von allerlei Diktatoren und antisemitischen Verschwörungstheorien. Jay Electronica bezieht dazu nur indirekt Position. Mehrere Songs auf "A Written Testimony" berufen sich auf die Lehren von Farrakhans Vorvorgänger und Mentor Elijah Muhammad und berichten von der prägenden Rolle, die sowohl die Nation Of Islam als auch die ebenso umstrittene, vor allem im Neunziger-Jahre-Rap einflussreiche Organisation der Five Percenter in seinem Leben spielen. Seine Texte sind jedoch ebenso korantreu wie ketzerisch, gezeichnet von einem Gottvertrauen, das nur noch von seiner stilvollen Selbstbeweihräucherung übertroffen wird.

Jay-Z steigt natürlich voll ein auf diesen Kurs. Er rappt beweglich, erregt, außer Atem, mit all den wunderbaren Jay-Z-Marotten und -Mehrdeutigkeiten die ihn zum reichsten Rapper der Welt gemacht haben. Schon sein letztes eigenes Album "4:44" zeigte den inzwischen 50-Jährigen in starker Spätform. Auf "A Written Testimony" gibt er nun den ultimativen Wingman und entwickelt als Stichwortgeber und Anstachler eine Chemie mit Jay Electronica, die an geschichtsträchtige Rap-Duos wie Mos Def und Talib Kweli oder eine postpubertäre Version von Run The Jewels erinnert. Selbst wer kein Wort versteht, wird bemerken, dass zwischen den beiden Männern etwas Besonderes passiert.

Jay Electronica unterstreicht diesen Umstand im autobiografisch geprägten Angebersong "The Neverending Story" mit einer der besten Strophen des bisherigen Jahres. Völlig ungehetzt bringt er Debatten über das schönste Lied von Prince, Überlegungen zu Kermit dem Frosch, Verweise auf das amerikanische Nachmittagsfernsehen vergangener Jahrzehnte sowie einen Exkurs zur Ankunft der (schwarzen) Menschen auf der Erde zusammen - und inszeniert sie als Fatwa des selbsterklärten Hip-Hop-Herrschers "Electollah Flomeini". Wenig ist sicher in diesen verrückten Tagen. Wer diesen Track aber nicht feiert, hat Rap nie geliebt. (8.5) Daniel Gerhardt

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Sorry - "925"

(Domino Records (Goodtogo), ab 27. März)

Die Geschichte der Londoner Band Sorry ist eigentlich zu gut, um wahr zu sein. Nichts, aber auch gar nichts schien darauf hinzudeuten, dass aus der Sängerin Asha Lorenz und dem Gitarristen Louis O'Bryen einmal eine der zurzeit aufregendsten britischen Indiepop-Bands werden würde. Zunächst mal lernten sich die beiden schon in der Schule kennen, und zwar dadurch, dass Asha den armen Louis ständig hänselte.

Irgendwann, schreibt der "Guardian", fand sie seine langen blonden Haare dann doch cool (heute trägt sie lang, er kurz) - und man traf sich zum gemeinsamen Musizieren an der Gitarre. Aus einer Jimi-Hendrix-Coverband (!) wurde dann die Band Fish - bis die beiden merkten, dass so auch der extrem unangesagte Sänger von Marillion hieß. Sorry! Ja, das blieb dann. Und jetzt erscheint mit "925" ein Debüt, das die amüsante Awkwardness dieser Story mit nonchalanter Geste in Pop verwandelt. Sorry hätten sich auch Misfits nennen können, aber das war halt auch schon vergeben.

Die Tonart ist Pixies und Pumpkins ("As The Sun Sets", "In Unison"), der sich langsam vom Rock weg bewegende Post-Grunge der späten Neunziger sowie eine ordentliche Dosis Eels-Depressiva ("Snakes") und viel Saxofon-Einsatz. Lorenz und O'Bryen besitzen jene laszive Duo-Dynamik, die an The Kills oder die (fast vergessenen) Ting Tings erinnert, thematisch allerdings in den desillusionierten Alltag der Gegenwart übersetzt. "I want drugs", singen sie in "More", "but don't give me too much". Das reimt sich dann auf "Just give me enough", was sich auch auf Alkohol, Geld und alles andere bezieht. Der Hedonismus der Neunziger und Nuller, den Sorry hier zitieren, tragen sie gleichzeitig auch zu Grabe. Und wenn Lorenz in der schön verkanteten Single "Starstruck" über die hohle, allgegenwärtige Promikultur lästert, wird ihr angeekeltes "Uargh" vor dem Refrain zu einem der brillantesten Hit-Momente des Jahres. Postheroisches, schon leicht angelaufenes Silber, clever vergoldet. (7.8) Andreas Borcholte

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

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