Album der Woche mit Tara Nome Doyle Das große Kribbeln und Krabbeln

Aus dem Kreuzberger Kämmerlein auf die große, internationale Popbühne: Die Berliner Musikerin Tara Nome Doyle spielt auf »Vaermin« hinreißend mit dem Ungeziefer der Seele – unser Album der Woche.
Musikerin Tara Nome Doyle, Albumcover von »Vaermin«: Umarmung des Gekräuchs

Musikerin Tara Nome Doyle, Albumcover von »Vaermin«: Umarmung des Gekräuchs

Foto: Sonja Stadelmaier / Modern Recordings

Album der Woche:

Tara Nome Doyle – »Vaermin«

Es ist immer wieder umwerfend, wenn man beim Hören eines neuen Albums spürt, dass ein Künstler oder eine Künstlerin keine Kompromisse mehr macht, wenn sie ihrer kreativen Stimme so sehr zu vertrauen gelernt haben, dass daraus eine sensationelle Kraft und Souveränität erwächst. Die in Berlin lebende Sängerin und Musikerin Tara Nome Doyle, so scheint es, hat diesen Punkt mit ihrem zweiten Album erreicht. »Vaermin«, Schädlinge, ist ein Konzeptalbum über eine Liebesgeschichte, die hell beginnt, dunkel endet und im Zwielicht ihre Erfüllung findet.

Es ist ganz großes Drama, mit kleinstem Kriechgetier erzählt: Die Songtitel sind wie allerlei Gekräuch betitelt und handeln auch davon – »Spider«, »Worms«, »Caterpillar«, »Leeches«, »Moth«, »Snail« oder »Mosquito«. Das große Kribbeln und Krabbeln löst bei manchem Fluchtreflexe aus, Arachnophobiker und andere Ekelanfällige brauchen starke Nerven, wenn sie sich in Tara Nome Doyles wimmelnde Gefühlswelt hineinbegeben wollen – wenn sie sich trauen, werden sie allerdings mit faszinierender, erlösender Schönheit belohnt.

Um genau diese Gegensätzlichkeit, die zwei Seiten der Gänsehaut, das schöne Schaudern und das entsetzte Schütteln, geht es bei »Vaermin«. Es handelt davon, im Streben nach reinster Unschuld und idealisierter Liebe auch die Schattenseiten bei sich und dem anderen zu erkennen – und zu umarmen. Wir seien »obsessed with pain but searching for pleasure/ Surrounded by good but searching for better«, benennt Doyle in einem ihrer vielen präzisen Text-Couplets diesen allzu menschlichen Instinkt, die unerwünschten Ungeziefer der Seele zu unterdrücken. Aber was, wenn man sie umarmt? »What if we welcome the vermin?«, fragt sie im Titelsong zu besinnlichen Kirchenorgelklängen, frei nach dem Psychoanalytiker C.G. Jung und seinen Theorien zu »Schatten« und »Persona«: Käme man dann nicht zu einem viel ehrlicheren und ausgewogenen Verhältnis zu sich selbst und damit auch zum Mitmenschen?

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Das ist natürlich so eine Frage, die wie aus dem Lockdown geboren zu sein scheint, aus der inneren Selbstbespiegelung im Wohnzimmerknast, allein am Klavier in Kreuzberg, wo Doyle tatsächlich die meisten ihrer Songs schreibt. Wer will, kann das alles sogar aus dem Kontext einer privaten Verhandlung von Liebesdingen herausheben und auf die gesellschaftliche Kluft des gegenseitigen Unverstehens beziehen, die sich in Pandemiezeiten beängstigend weit geöffnet hat. Mit den Theorien Jungs beschäftigte sich Tara Nome Doyle allerdings auch schon auf ihrem Debütalbum »Alchemy«, das auch toll war, aber noch nicht über die Selbstsicherheit und Abgeklärtheit verfügte, die »Vaermin« nun eindrucksvoll demonstriert.

Wem das alles zu akademisch erscheint, der muss sich einfach nur auf Doyles zwischen säuselnden Kopf- und markerschütternd tiefen Brusttönen wechselnde Stimme einlassen – und auf die Wucht ihrer zugleich zarten und mitreißenden Kompositionen. Schon im ersten Stück, »Leeches I«, stellt sie sich furchtlos mit dem Rücken zur Wand, gibt sich einer neuen Liebe hin, aber auch ihrer Kunst: »Take my body to the shooting ground«, singt sie, »'cause I'll bleed if you want me to«, Stell mich auf den Hinrichtungsplatz, ich blute für dich, wenn du es willst. In diesem Gebet für die Blutegel gelangt sie vom leisen, sinnlichen Stoßseufzer zum schmerzlichsten Geheul, die Musik wogt vom Simmern der Orgel im stillen Kämmerlein in einen weiten Raum, in dem Pianoakkorde und Perkussion frei herumwirbeln. Musikalische Vorbilder wie Kate Bush und Tori Amos treffen in Doyles Popentwurf auf Kammermusik und den oft ebenso im Unterbewussten wühlenden Artrock von Radiohead.

Die Sängerin mit norwegisch-irischen Wurzeln wurde 2016 mit 19 Jahren von dem Berliner Soundtrack-Kurator und nebenberuflichen Naturweinagenten Martin Hossbach bei der Abschlussgala einer Bühnenkunstakademie entdeckt. Hossbach brachte »Alchemy« nach einigen ersten Singles auf seinem eigenen Label heraus. Das Debüt wurde 2020 von der Kritik bejubelt und öffnete der inzwischen 24-Jährigen die Türen zu einer musikalischen, in zahlreiche interdisziplinäre Projekte ausgreifenden Karriere, die nach »Vaermin« längst nicht mehr auf Deutschland beschränkt bleiben dürfte.

Produziert wurde das neue Album von Simon Goff, der für seine Arbeit am »Chernobyl«-Soundtrack von Hildur Gudnadóttir einen Grammy gewann. Zu den Musikern zählen Mitglieder von Gang of Four und den Bad Seeds. Für den Soundtrack des soeben gestarteten Netflix-Films  »München – Im Angesicht des Krieges« schrieb Doyle einen Song zusammen mit der britischen Komponistin Isobel Waller-Bridge (»Fleabag«), den sie erstmals auf Deutsch sang. Man wartet also gespannt auf die nächsten Schritte, ein Duett mit Thom Yorke zum Beispiel. Vocals für die Filmmusiken von Jonny Greenwood?

Zunächst aber muss man sich unbedingt in »Vaermin« versenken, in den donnernden Empowerment-Gestus von »Moth«, das emotionale Belauerungsszenario von »Spider« oder das viel zu kurze »Worms«, das man gern bald im endlosen Techno-Remix hören würde. Einzig »Crow« mit seiner seltsam unnötigen elektronischen Stimmverschlurfung (»Morning comsch too schoon«), fällt aus dem Rahmen. Kein Wunder, dass sie da am Ende selbst hörbar ins Mikro schnaufen muss.

Für alles andere gilt, was die Verführerin Tara Nome Doyle mit grandioser Creepyness in »Caterpillar« singt: »Don't try to flee/ Embrace quarantine/ You don't need friends/ You just need me«. Schon jetzt eine der schönsten Pop-Offerten des Jahres. (9.0)

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

Abgehört im Radio

Mittwochs um Mitternacht (0.00 Uhr) gibt es beim Hamburger Webradio ByteFM  ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte. Seit 1. Januar 2022 sendet ByteFM in Hamburg auch auf UKW (91,7 und 104,0 MHz).

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