Vocal Jazz Alles auf die Frau

Einer menschlichen Stimme hört man lieber zu als Instrumenten, und am besten kommen immer noch Frauenstimmen an. Deshalb setzen viele Plattenfirmen auf Vokalistinnen wie Helen Schneider, Viktoria Tolstoy oder Lisa Bassenge - "vocal jazz" ist schwer in Mode, weltweit.

"Einige der wichtigsten Jazzsänger haben – nach klassischen Kriterien – 'hässliche' Stimmen", schrieb vor 50 Jahren der Jazz-Experte Joachim Ernst Berendt und verwies auf Louis Armstrongs kratzig-heiseres Organ. Der Trompeter galt als hervorragender Vokalist. Europäische Wertvorstellungen wie die Reinheit der Stimme und der Tonumfang sind für den Jazzgesang unerheblich. Im Jazz zählen Ausdruckstärke und Originalität. Berendt: Während etwa Saxofonisten den Ton der menschlichen Stimme nachahmen, "kann man einer Sängerin nichts Schöneres sagen als: Sie versteht ihre Stimme wie ein Instrument zu behandeln".

Helen Schneider hat ein Instrument studiert. Die in Berlin lebende New Yorkerin wollte Konzertpianistin werden und sang zunächst nur zur Entspannung – am liebsten Jazzstandards und Melodien aus Musicals, die ihre Mutter Anfang der sechziger Jahre trällerte. Genau solche Stücke singt die inzwischen 46-jährige nun auf einer CD "in einem echten Jazzsound", wie der Bassist Christian von Kaphengst sagt, der das Album "Dream A Little Dream" zusammen mit Till Brönner produzierte. Ist die vielseitige Vollblutmusikerin nach ihrer Karriere als Rocksängerin und Musical-Star tatsächlich beim Jazz angekommen? Helen Schneider verfügt über genügende Routine, sich auch in diesem Genre zurechtzufinden; und für den entspannten Swing ihres Traumalbums sorgen Begleitmusiker wie der Pianist Frank Chastenier und der Gitarrist Torsten Goods.

Die Platte von Helen Schneider bestätigt eine Erfahrung: Labels bringen überproportional viel "vocal jazz" heraus. Denn Stimmen verkaufen sich auch im Jazz und Jazzverwandten besser als Instrumentalaufnahmen. Im umfassenden Angebot aus diesem Herbst fallen weitere Neuerscheinungen auf.

Aus den USA: Wie Helen Schneider greift auch die amerikanische Sängerin, Pianistin und Komponistin Patricia Barber auf Standards zurück. Ihr "Cole Porter Mix" enthält Ohrwürmer wie "Easy To Love". Das überwiegend sanft klingende Album belebt der Tenorsaxofonist Chris Potter mit furiosen Soli, wenn er bei etlichen Titeln zu Barbers Combo stößt.

Aus Europa: Die schöne Victoria Tolstoy erhielt 2005 für ihr Album "My Swedish Heart" eine Goldene Schallplatte; da bot sich an, irgendwann mit "My Russian Soul" zu folgen, schließlich entstammt die blonde Schwedin der Sippe des Dichters Leo Tolstoi. Auf der neuen CD wurden Stücke von Komponisten wie Peter Tschaikowsky und russische Volkslieder für Viktoria arrangiert. In ihrer Begleitband fällt neben dem Posaunisten Nils Landgren der aus Serbien stammende Akkordeonvirtuose Lelo Nika auf.

Aus Deutschland: "Madonna hat mir durch die Pubertät geholfen", bekannte einmal Lisa Bassenge, deren musikalischer Geschmack ansonsten von den Jazzplatten in ihrem Elternhaus geprägt wurde. Im neuen Album "Won’t Be Home Tonight", live aufgenommen im Jazzclub A-Trane und im Schloss Elmau, hat die 34-jährige Berlinerin ihr aus Stimme, Piano und Bass bestehendes Trio um Gitarre und Schlagzeug erweitert. Das schafft neue Klangmöglichkeiten für die Sängerin, die – anders als Hildegard Knef – irgendwie jazzig und gleichermaßen – im positiven Sinne – deutsch klingt.

Aus den USA: In ihr Album "The Standard" haben die mit mehreren Grammys ausgezeichneten sechs Sänger von "Take 6" Einspielungen von Gästen wie Al Jarreau, Roy Hargrove und Till Brönner hinzugefügt. Sogar die Stimme der 1996 verstorbenen Ella Fitzgerald ist zu hören – die Technik macht's möglich; aber man könnte auch darauf verzichten. Denn das Vokalsextett aus Alabama bringt das Kunststück fertig, a cappella den Sound einer Bigband zu erzeugen – Stimmen klingen wie Instrumente.


Helen Schneider: (Edel Music)
Patricia Barber: (Blue Note)
Viktoria Tolstoy: (ACT)
Lisa Bassenge: (Minor Music)
Take 6: "The Standard" (Heads Up)

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