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Aggro Berlin: Sie kamen, provozierten - und sahnten ab

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Rotzige Attitüde, große Klappe Was wurde aus Aggro Berlin?

Deutscher Gangsta-Rap? Klang lächerlich. Bis die Gründer des Hip-Hop-Labels Aggro Berlin kamen, provozierten, absahnten - und verschwanden. Was wurde eigentlich aus der alten Heimat von Sido, Bushido und Co.?

"Weil wir Rebellen waren, weil wir 'Anti' waren, weil wir Hip-Hop als Gegenkultur verstanden haben": So fasst Jens Ihlenfeldt alias "Spaiche" heute das Selbstverständnis der Gründer des Hip-Hop-Labels Aggro Berlin vor fast 15 Jahren zusammen. Der Breakdancer gründete das Unternehmen mit dem Sprayer Specter und Halil Efe, Betreiber eines Szeneshops. Sie waren damit nicht gerade typische Musikunternehmer, aber der Hip-Hop-Kultur sehr nah - und brachten die Karrieren von Bushido, Sido, Fler und anderen Rappern der raueren Art schnell auf Erfolgskurs.

Zur Jahrtausendwende klafften im Deutschrap Lücken: Es gab hierzulande keinen kommerziell erfolgreichen Straßen- oder Gangsta-Rap. Und Berlin war völlig unterrepräsentiert: Gruppen aus Stuttgart (Die Fantastischen Vier oder Freundeskreis, mit Max Herre) oder Hamburg (Fettes Brot oder Absolute Beginner) prägten das Bild der Szene - Bürgerkinder, die flotte Reime auf technisch hohem Niveau rappten, dabei aber politisch korrekt blieben.

Rap auf Kassetten und Partys im Keller

Das neue Label setzte sich zum Ziel, dass deutscher Rap, mit aggressiver Attitüde versehen, aus Berlin kommen sollte. Bei Null musste Aggro nicht anfangen: Der Battle-Rapper Kool Savas versah primitive Beats mit dreckig-aggressiven Texten. Das Label Royal Bunker vertrieb Sidos erste Versuche. Aber all das war noch Nische, auf eine kleine Szene begrenzt. Diesen Rap, erinnert sich Spaiche, fand man auf Kassetten und Kellerpartys.

In den USA hingegen schaffte es der Gangsta-Rap spätestens ab Ende der Achtziger kommerziell erfolgreich in den Mainstream. Selbst in Frankreich war diese Spielart des Hip-Hops seit den Neunzigern zunehmend angesagt. Anders in Deutschland: "Für die Leute, die Tupac gehört haben, gab es nur sehr wenige Angebote auf Deutsch", erklärt Dennis Kraus, der Chef vom Dienst des Szenemagazins "Backspin", die Situation Anfang des Jahrtausends.

"Wir haben nicht verstanden, warum das auf Deutsch nicht auch gehen sollte", sagt Spaiche. "Es musste nur jemand den Mut haben, das anzufassen." Das Aggro-Trio sah eine Marktlücke mit Abnehmern, denen ein entsprechend kompromissloses Produkt schmackhaft gemacht werden konnte. In diese Lücke sei Aggro Berlin "mit voller Breitseite" hineingestoßen, erklärt Kraus.

Die Provokation als Verkaufsschlager

Die Aggro-Künstler provozierten als rappende Bürgerschrecke und loteten die Grenzen des Machbaren aus. Sowohl Bushidos Solo-Erstlingswerk "Vom Bordstein zur Skyline" (2003) als auch Sidos erstes Album "Maske" (2004) landeten umgehend auf dem Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM). Das sollte das Image der Marke Aggro bald prägen: Insgesamt wurden 17 Aggro-Veröffentlichungen durch die "Moralwache der Republik" indiziert.

Aggro beschränkte sich dabei nicht darauf, Musik zu verkaufen. Die Raps vom harten Leben auf der Straße wurden mit einer ansprechenden Verpackung veredelt. Artdirektor Specter baute die Rapper zu Anti-Helden auf. Dazu gehörte ein maßgeschneidertes Image, ein Logo, und bei Sido die berüchtigte Totenkopf-Maske. "Niemand hat es auch nur annähernd so verstanden wie die, dass die Verpackung unglaublich wichtig ist", sagt "Backspin"-Chef Kraus.

Sido fasst auf dem Track "Verrückt wie krass" die simple, aber erfolgreiche PR-Masche von Aggro Berlin zusammen: "Hier und da mal 'ficken' sagen, manchmal übertreiben / Du musst Grenzen überschreiten, mach, dass sie drüber schreiben."

"Provokation als Mittel des Entertainments", so fasst es Spaiche zusammen. Nicht wirklich neu, im deutschen Rap aber durchaus. Es schlug ein, auch kommerziell. Acts wie Bushido oder Sido produzierten nicht nur empörte Schlagzeilen, sondern auch Hits.

Ernte: Auf der Musikwoche Midem 2008 sammelten die Aggro-Berlin-Gründer Spaiche, Halil und Specter (v.l.n.r.) 20 Gold- und Silber Awards für Alben und Singles ihres Labels ein. Kurz darauf machten sie Schluss

Ernte: Auf der Musikwoche Midem 2008 sammelten die Aggro-Berlin-Gründer Spaiche, Halil und Specter (v.l.n.r.) 20 Gold- und Silber Awards für Alben und Singles ihres Labels ein. Kurz darauf machten sie Schluss

Foto: MusikWoche

Das Aus nach neun Jahren

Die Geschichte endete so unvermittelt, wie sie begonnen hatte. Am 1. April 2009 gab Aggro Berlin bekannt, dass das Label den Betrieb einstellen würde. "Ich habe das zunächst für einen Aprilscherz gehalten", erinnert sich Kraus. Zwar gab es schon zuvor Gerüchte über ein nahendes Ende, aber selbst Szene-Beobachter hatten nicht mit einem kompletten Ausstieg gerechnet.

"Nach neun Jahren war einfach das Bedürfnis nach Veränderung da, bei den Künstlern genauso wie bei uns", erklärt Spaiche heute. Zudem litt das gesamte Musikgeschäft wegen steigender illegaler Downloads unter stark rückläufigen Absatzzahlen, wovon besonders der Hip-Hop betroffen war. "Gegen den Trend kamen wir irgendwann nicht mehr an", resümiert Spaiche.

Die drei Label-Gründer sind auch heute noch Geschäftspartner und haben ihre Büros in dem Aggro-Gebäude. Das Trio hatte auch bei der Label-Aufgabe nochmals Geschäftssinn bewiesen und trennte sich nicht vom sogenannten Backkatalog. "Das Geschäft mit den Aggro-Berlin-Rechten funktioniert ganz hervorragend. Das zahlt weit mehr als unsere Miete", freut sich Spaiche.

Bilanz und Nachspiel: Die neuen Geschäfte

Und Aggro existiert weiter, als eine Art Hip-Hop-TV im Internet : Dort stellen Künstler ihre Reimkünste zur Schau, neue Sneaker werden vorgestellt, oder Rapper erklären die Bedeutung ihrer Tattoos. Die Webseite finanziert sich über kurze Werbespots, die den eigentlichen Videos vorgeschaltet sind.

Spaiche gründete in Kooperation mit dem Kölner Vertrieb Groove Attack zudem ein neues Label, hat zurzeit Rapper Eko Fresh unter Vertrag. Auch an einer Art digitalen Vertriebsagentur ist er beteiligt. Specter, der Mann fürs Visuelle, dreht heute Werbefilme in Asien. Halil ist weiter an seinem Hip-Hop-Shop beteiligt und unterhält einen Olivenhain in der Türkei, den er laut Spaiche öfter besucht.

Spaiche sieht das Label im Rückblick als Vorreiter: "Das Hip-Hop-Geschäft, in dem heute viele Leute ganz gutes Geld verdienen, würde es so nicht geben, wenn wir das nicht entwickelt hätten". Und tatsächlich gehört der Straßen-Rap, mit Vertretern wie Farid Bang und Kollegah, heute zu den Genres mit den höchsten Verkaufszahlen. Hat Aggro damit Musikgeschichte geschrieben? Zumindest traf das Berliner Label mit rotziger Attitüde und großer Klappe den Nerv der Zeit.

"Hat auch nicht wenig Spaß gemacht, andere Leute zu ärgern", räumt Spaiche ein.

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Korrektur: In einer früheren Version des Textes wurde Dennis Kraus versehentlich als Chefredakteur der "Backspin" tituliert, tatsächlich ist er heute Chef vom Dienst (CvD) des Magazins. Chefredakteur war er von 2001-2009.

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