Abgehört - neue Musik Es gibt auch gute Powerballaden!
Yves Tumor kann alles. Nicht nur die Musikpresse schreibt das seit Jahren über den Sänger, Songwriter, Multiinstrumentalisten und Produzenten aus Miami. Auf seinem neuen Album "Heaven To A Tortured Mind" singt er es auch selbst. "Kerosene!" heißt der Song, in dem Tumor gemeinsam mit der Soulmusikerin Diana Gordon aufzählt, was die beiden alles können und sein könnten: Minutenlang stacheln sie einander an, fallen sich ins Wort und beenden die Gedanken des jeweils anderen - bis ein "Purple Rain"-mäßiges Gitarrensolo losheult, mit dem sich "Kerosene!" nicht nur das Ausrufezeichen in seinem Songtitel verdient. Lektion des Tages: Es gibt auch gute Powerballaden, die nicht von Bonnie Tyler sind.
Tumors Musik war bisher geprägt von Genre-, Zeit- und Ortlosigkeit. Der Künstler suchte die progressiven Club- und Krachszenen von Miami, Los Angeles, Leipzig, Berlin und Turin nach Inspiration ab und schöpfte aus seinen Fundstücken einen Sound, der sich jeder Einordnung und Verortung widersetzte. Auf seinem Album "Safe In The Hands Of Love" verband er vor zwei Jahren die avantgardistischen Kicks der Stunde mit Anflügen persönlicher Jugendlieben und -sünden wie Emocore, Industrialrock und Neunzigerjahre-Alternative. Kraft und Körperlichkeit des Soul kennzeichneten die Songs der Platte, drohten jedoch ständig ins Masochistische und Gewalttätige überzukippen.
Umso erstaunlicher nun der U-Turn, den Tumor mit "Heaven To A Tortured Mind" vollzieht. Das vierte Album des Künstlers ist sein erstes, von dem man glaubt, es festnageln zu können: auf Vorbilder, Einflüsse und sogar einige Straßenblocks im Brooklyn der mittleren Nullerjahre. Bevor der Stadtteil Williamsburg in Urban-Outfitters-Läden, Luxus-Condos und Flagshipstores des Hautpflegeunternehmens Aesop umgewandelt wurde, erfanden Bands wie TV On The Radio, Liars und Yeasayer dort eine kunstinformierte Rockmusik, die mit Samples, Synthesizern und zweckentfremdeten Instrumenten experimentierte. Tumor hätte prima zu diesen Leuten gepasst, war zur damaligen Zeit jedoch mit unerfreulichen Teenagererfahrungen in Tennessee beschäftigt.
20 Jahre später kann man sein neues Album deshalb als retrofuturistische Rockmusik hören. Blasersamples eröffnen die Platte mit einem verstolperten Groove und verweisen zugleich auf den Auftakt des szeneprägenden TV-On-The-Radio-Höhepunkts "Return To Cookie Mountain". Auch dieses Album war vor 14 Jahren mit blechernen Fanfaren losgegangen - und erweist sich nun als überraschendes spirit animal von "Heaven To A Tortured Mind". Tumor ermutigt seine Bassistin Gina Ramirez zur Melodieführung und seine diversen Gitarristen zur unsachgemäßen Verwendung und Beschädigung ihrer Instrumente. Als Sänger demonstriert er vollkommene Kontrolle über die fordernden, sehnenden und sexuell aufgeladenen Ausprägungen seiner Stimme.
All das klingt aufregend, angespannt und doch elastisch in den Knien: also gar nicht wie jene Verwaltungsarbeiten im Namen der Rockmusik, die das Genre in den letzten Jahren bestimmt haben. Skeptiker dürfte es trotzdem geben, Menschen, die sich an der relativen Eindeutigkeit von "Heaven To A Tortured Mind" und den Texten stören werden, die Tumor diesmal singt. Ging es auf "Safe Inside The Hands Of Love" noch um komplexe Identitätssuchen und Selbstauflösungen, stehen diesmal Menschen im Mittelpunkt, die einander beinahe buchstäblich zum Fressen gernhaben. Kann Yves Tumor auf dem Feld der konventionellen Zweisamkeit noch etwas Neues hinzufügen? Die Antwort stand bereits am Anfang dieser Rezension. (8.4) Daniel Gerhardt
Es ist, was es ist. Diese lakonische Aufforderung zur Hinnahme höherer Gewalten sagt nicht nur Robert De Niro mehrmals zum widerständigen Al Pacino im Gangster-Requiem "The Irishman" - "It Is What It Is" ist nun auch der Titel des vierten Thundercat-Albums - ein Satz wie gemacht für die Corona-Krise. Der Schlenker ins Kino würde Stephen Bruner wahrscheinlich gut gefallen. Bis vor kurzem traf sich der längst auch im Pop gefeierte Jazz-Bassist noch regelmäßig mit seinem langjährigen Kumpel und Brainfeeder-Labelchef Steven Ellison (alias Flying Lotus) und dem Rapper Mac Miller im Pinz, einer ehrwürdigen Bowlinghalle in Los Angeles - und spielte dabei scherzhaft eine eigene Version seines Lieblingsfilms "The Big Lebowski" nach. So war es neulich in der "Wasghington Post" zu lesen. Die Frage, wer "The Jesus", wer der Dude und wer Walter oder Donny sein müsse, blieb allerdings offen; Mac Miller starb im September 2018 an einer Überdosis.
Der Tod seines besten Freundes stürzte Bruner, 35, noch tiefer in eine ihn ohnehin schon plagende Alkoholsucht, die er auf seinem letzten Album "Drunk" thematisiert (und ironisiert) hatte. Mit Mühe und Unterstützung von Flying Lotus versuchte er dann ein weiteres Mal, die Trauer um einen geliebten Menschen in fluiden, beeindruckend leichthändig wirkenden Fusion-Jazz und Funk zu verwandeln. Erst wenige Jahre zuvor hatten Ellison und Bruner den Kummer über ihren mit 22 Jahren verstorbenen Freund und Pianisten-Kollegen Austin Peralta beklagt, was zum Thema der Flying-Lotus-LP "You're Dead!" wurde und auch Thundercats Musik zu jener Zeit mit Morbidität durchwirkte.