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Zola Jesus in Berlin: Das kleine Nachtgespenst

Foto: Angel Ceballos

Zola Jesus in Berlin Lady Gaga der Stubenhocker

Der letzte Schrei? Das Leichentuch! Im Berliner Club "Berghain" stellte die große amerikanische Einsamkeitskünstlerin Zola Jesus ihr neues Album vor - und präsentierte ihren Gothic-Pop überraschend als gemeinschaftstiftendes Gospel-Ereignis.

Die Betreiber des Berliner Clubs "Berghain" tun bekanntlich eine Menge, um die Kontaktaufnahme zwischen ihren Gästen zu erleichtern. Es gibt auf mehreren Ebenen abgedunkelte Räume zum unverbindlichen Kennenlernen, auf den Unisex-Toiletten sind Männer und Frauen angehalten, sich die Kabinen zu teilen, und im hinteren Barbereich gibt es eine einladende Liebesschaukel. Für jemanden wie Zola Jesus muss dieser Ort der institutionalisierten Entgrenzung eigentlich das blanke Entsetzen auslösen, singt sie doch Hymnen der Einsamkeit wie zurzeit keine andere.

Das ewige Thema der 22-Jährigen: Die unüberwindbare Grenze zwischen Ich und Du, da ist fast kein Wir in ihren Texten. In den Medien wird Zola Jesus deshalb gerne als unberührbare Eisprinzessin gefeiert, der britische "Guardian" sieht in ihr die "Vorbotin einer zweiten Goth-Welle", also jener Bewegung, deren in der Regel schwarzgekleidete Vertreter mit ihrer Drei-Schritte-vor-drei-Schritte-zurück-Bewegung in den achtziger Jahren penibel aneinander vorbeitanzten. Die 1,50 Meter kleine Großkünstlerin, die bürgerlich Nika Roza Danilova heißt, geschickt die Mythen um ihre Biografie nährt und ihren zarten Körper mit auffälligen Accessoires und Applikationen versieht, darf aber auch Lady Gaga, der Stubenhocker, genannt werden.

Man durfte also gespannt sein, wie der Auftritt der Isolations-Dichterin im Entfesselungs-Bad des "Berghains" ausfallen würde. Am Donnerstagabend stellte Zola Jesus dort bei ihrem vorerst einzigen Deutschlandkonzert "Conatus" vor, ihr drittes Album, das das von der Presse eine Wichtigkeit eingeräumt wird wie einst dem dritten Album von Björk. Wie die Isländerin damals genießt Zola Jesus heute einen ähnlichen Ruf als Selbsterfinderin und alternative Stilikone.

Schönes Kind, schreckliches Kind

Und so starrte das Publikum in Berlin erwartungsfroh auf die offene Bühne des "Berghains", bis dann die Künstlerin mit flatternden, dürren Armen ans Mikro tanzte. Das weiße Gewand kehrte das Gespenstische ihrer Erscheinung noch einmal besonders heraus: das Leichentuch als letzter Schrei. Als sie sich da mit physiologisch kaum erklärbaren Verrenkungen an den Bühnenrand wandt, erinnerte sie an das schreckliche untote Kind in dem Horrorfilm "The Ring", das aus dem Fernsehgerät steigt, um die Lebenden heimzusuchen.

Schlafwandlerischer Schwebezustand und schwere Opern-Gesten gingen bei bei Zola Jesus' Auftritt Hand in Hand: Während sie sich ostentativ dem Publikum zuwendete, bearbeitete ihr Bandkollege sein Standschlagzeug wie ein Schmied ein Stück erhitztes Eisen, das mit harten Schlägen geformt werden muss. Der wuchtige Beat vom Schmied erinnerte an die legendären Swans, die monochromen Synthie-Melodien an die ganz frühen Human League und der finstere Gesang, klar, an Siouxsie and the Banshees.

Doch die zu diesen musikalischen Helden gehörenden Genre-Bezeichnungen, und das ist das Tolle an Zola Jesus, überführt sie in ein eigenes Fach. No Wave, Industrial-Pop, Gothic - sie lösten sich in Berlin im großen schwarzen Vibrato ihrer Vereinsamungsgesänge fast völlig auf.

Sagten wir Gesänge? Genau. Denn auch wenn Zola Jesus für sich allein intonierte, über Loops wurde ihre Stimme vervielfacht, ihre Psalmen erreichten dadurch streckenweise die Dichte eines Gospelchors. So wurde ihr neues Album bei aller erdrückenden Thematik in geradezu erhebender Stimmung vorgetragen: Der Song "Hikikomori", der das japanische Phänomen von jungen Menschen beschreibt, die sich bei ihren Eltern einschließen und den Kontakt zur Außenwelt nur über Computer halten, kam geradezu beschwingt daher, das Nervenzusammenbruchdrama "Collapse" entwickelte einen verstörenden Drive.

Auf diese Weise öffnete sich die Künstlerin ganz unerwartet dem Publikum, um am Ende ekstatisch zuckend über die Bühne zu wirbeln. Sie berührte dabei, so will uns scheinen, gar ein paar Menschen in der ersten Reihe. Da lieferte ihn die große Einsamkeitskünstlerin, dem "Berghain" sei dank, also doch noch: diesen zarten, diesen wunderbaren, diesen schwer errungenen Moment der Entgrenzung.


Zola Jesus: "Conatus" ist am 30. September bei Souterrain Transmissions/Rough Trade erschienen
Weitere Konzertdaten: 17. November: Stadtgarten, Köln / 18. November: Karlstorbahnhof, Heidelberg / 19. November: Orangehouse, München / 20. November: Sinkkasten, Frankfurt am Main

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