Zum Tode Mstislaw Rostropowitschs Das Individuum gewinnt
Am 9. November 1989 war Mstislaw Rostropowitsch in Paris. Er schaltete den Fernseher und sah die Mauer fallen. Da musste er dabei sein! Im Privatflugzeug eines Freundes flog er am folgenden Tag nach Berlin und fuhr mit dem Taxi vom Flughafen schnurstracks zur Mauer. Aus einem Haus bekam er einen Stuhl gereicht. Rostropowitsch setzte sich, packte das Cello aus dem Kasten, spannte den Bogen und spielte - Klänge von Johann Sebastian Bach. Alte Musik also an diesem historischen Tag! Und er war gerührt. "Die Zerstörung dieser Mauer ist das größte der Ereignisse in meinem Leben seit dem 9. Mai 1945. Ich sah Menschen, die vor Freude und Glück weinten. Dank an alle Menschen, die diese Freude ermöglicht haben." Und auch den Zuschauern, die zufällig Zeuge dieses Auftritts wurden, wurden die Augen feucht.
Er war ein Künstler mit musikalischen und politischen Botschaften. 1927 im aserbaidschanischen Baku geboren, liebte er sein ganzes bewegtes Leben lang seine Heimat Russland - und hasste das repressive, spätstalinistische System der Sowjetunion. Er war ein unbeugsamer Musiker. Er bekam am Moskauer Konservatorium die beste musikalische Ausbildung. Er gewann Preise, wurde im In- und Ausland bejubelt und spürte schnell die Macht des Apparats. Der Cellist setzt sich öffentlich für seine Freunde Andrej Sacharow und Alexander Solschenizyn ein und bekam dafür 1971 Ausreiseverbot. Drei Jahre später durfte er von dannen ziehen, aber die Rückkehr war ausgeschlossen.
So haben das die Sowjets mit vielen prominenten Musikern gemacht. Vladimir Horowitz, Gidon Kremer oder Vladimir Ashkenazy haben viele - traurige - Lieder davon gesungen. 1978 bekam Rostropowitsch die Staatsbürgerschaft aberkannt, und er, nicht verzagt, wetterte selbstbewusst: "Ich gehe erst zurück, wenn es in meinem Land volle künstlerische Freiheit gibt." Und so wurde aus dem Sowjetbürger unversehens ein Schweizer Staatsbürger.
Rostropowitsch hat sich immer bestens in Szene gesetzt. 1977 wurde er musikalischer Direktor des National Symphony Orchestra in Washington. Ein Russe als Musikchef in der Hauptstadt der USA! Dass war so symbolträchtig, dass internationale Multis seine Tourneen gern gesponsert haben: Pepsi Cola und Procter & Gamble zum Beispiel sorgten für viele Dollars und viel Publicity. So mancher Freund aus alten Tagen kritisierte die Geschäftstüchtigkeit des Cellisten. Gegen die Freiheit im Westen war aus ihrer Sicht selbstverständlich nichts einzuwenden, gegen kapitalistischen Kommerz sehr wohl.
Kampf mit dem Orchester
Mit seinem Cello, einer Stradivari von 1711, wirkte Rostropowitsch geradezu verwachsen. Er hielt das Instrument nicht nach den Regeln der Musiklehrer-Kunst brav und aufrecht zwischen den Knien. Sein Instrument lag fast zwischen den Beinen, denn der Stachel seines Cellos, mit dem es auf dem Boden steht, war lang und gebogen. In dieser unkonventionellen Haltung hat Rostropowitsch so manches Kunststück vollführt. Der Mann und seine wundervolle Musikkiste gaben sich gemeinsam der Musik hin, haben raue Akzente gesetzt und lange Melodien geschmachtet. Sie haben als Solist mit dem Orchester gekämpft oder sind zart in unendliche Tonhöhen emporgeklettert. Sein Cello-Ton konnte weit tragen und farbig strahlen, sein Spiel war nicht immer elegant, aber kernig und muskulös, auch draufgängerisch.
Manchmal konnte das - durchaus im Interesse der Musik - auch nervend sein. Als Rostropowitsch das Cellokonzert des polnischen Avantgardisten Witold Lutoslawski einstudierte, ächzte er am Schluss und rief während der Probe zu dem dirigierenden Komponisten: "Ich gehe unter." Er konnte sich kaum gegen die aggressiven Klangmassen des Orchesters wehren. Doch Lutoslawski spornte ihn an: "Am Schluss wirst du gewinnen." Und der Komponist, kein Wunder, behielt Recht: Im Finale triumphiert das Cello mit energischen Tonwiederholungen - und das Orchester, diese Masse Musiker, hat das Nachsehen. Auch so kann man die individuellen Rechte des Menschen ausdrücken. Nicht das Kollektiv, das Individuum gewinnt. Rostropowitsch haben diese Töne gefallen, er hat Lutoslawskis virtuoses Konzert oft aufgeführt.
Bewundernswert, mit welcher Offenheit Rostropowitsch sich mit der Moderne auseinandersetzte. Wo andere Stars der Szene vor avantgardistischen Klängen einen weiten Bogen machen, sich vor Dissonanzen und Kakophonien fürchten und solche Stücke dem Publikum nicht zumuten möchten, zeigte Rostropowitsch große Neugier. Benjamin Britten, Sergej Prokofjew, Dimitri Schostakowitsch, Alfred Schnittke und Pierre Boulez haben sich durch den Virtuosen zu neuen Werken inspirieren lassen. Mehr als 80 Stücke sind für ihn geschrieben worden.
Unvergleichliche Aura
Er hat viel experimentiert, hat den Bogen nicht wie üblich sensibel zwischen Daumen und den vier Fingern festgehalten, sondern ihn schon mal mit der rechten Faust gepackt. Und wenn die dann auf die Saiten knallte, krachen die Töne. In solchen Augenblicken war er meilenweit vom philharmonischen Schönklang entfernt. Doch sofort wurde klar: Dieser Musiker verliert sich nicht in den guten alten klassischen und romantischen Zeiten und träumt von Harmonie, Glückseligkeit und edler Einfalt. Wer so temperamentvoll und unverfroren zur Sache gehen kann, steht voll im Leben. Rostropowitsch hatte keine Angst, sein wertvolles Instrument zu traktieren. Und sein Publikum, neuen Tönen so oft ablehnend gegenüber, lag ihm zu Füßen. Seine Autorität hat überzeugt, seine Aura war unvergleichlich.
Als Dirigent war Rostropowitsch nicht ganz so berühmt. Da zehrte er - vergleichbar mit dem Taktstock schwingenden Placido Domingo - von seinem Renommee als Virtuose. Immer hat ihn die Musik seiner Heimat besonders interessiert. Er dirigierte Opern von Tschaikowsky und Schostakowitsch und das große sinfonische Repertoire. Auch als Kammermusiker hat der Cellist Zeichen gesetzt, und das verdankte er auch den exzellenten Musikern, mit denen er zusammenspielte: Vladimir Horowitz, Yehudi Menuhin oder Martha Argerich.
Als Pädagoge hatte Rostropowitsch große Wirkung, er ist nicht nur zu Konzerten, sondern auch zu Meisterkursen um die Welt gejettet. 1997 war er zum Beispiel in Kronberg von den Toren Frankfurts beim Internationalen Cello-Festival. Der Star, selbstbewusst und selbstsicher wie immer, hat den kleinen Ort am Rande des Taunus kurzerhand zur "Welthauptstadt des Cellos" ausgerufen. Sprachs und hatte mehr als 200 Nachwuchs-Cellisten in seiner Meisterklasse, die aus 26 Ländern angereist waren. Ein Musiker, viel verehrt, umarmt und geliebt.