VERA BRÜHNE »... muss in Kauf genommen werden«
Es geht zu wie in einem Stück von Bertolt Brecht. Ein Mann wird gesucht. Er soll eine bestimmte Rolle übernehmen. Er wird nicht gefunden. Man nimmt einen anderen. Er begreift zuerst nicht. Dann schiebt man ihn in die Rolle, und er tut, was verlangt wird.
Man sollte meinen, in einem deutschen Mordprozess sei dergleichen unmöglich. Vielleicht ist es auch unmöglich, solange man in das Innerste der handelnden Personen nicht eindringen kann. Aber der Fall Vera Brühne zeigt uns, wie dergleichen laufen könnte und wie es vielleicht sogar gelaufen ist. Da haben wir die blonde, hochgewachsene Erscheinung, eine lebenshungrige und vielleicht auch geldgierige Frau. Ihr schreibt man auf den Leib, an der Ermordung des Dr. med. Otto Praun und seiner Lebensgefährtin Elfriede Kloo ein handfestes materielles Interesse gehabt zu haben - ihr als Einziger. Der Erste Staatsanwalt und der Vorsitzende des Münchner Schwurgerichts scheinen in diesem Punkt übereinzustimmen. Ihnen schwebt vor: Die Brühne muss es gewesen sein. Entlastende Indizien lässt der Staatsanwalt, obwohl es seine Pflicht wäre, gar nicht erst in seinen Gesichtskreis eindringen.
Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Dr. Klaus Seibert, ist gehalten, die Wahrheit herauszufinden. Nach gründlichem Studium der Akten fühlt er sich bestätigt.
Ein starker Vorsitzender hat immensen Einfluss auf seine juristischen Beisitzer und die Geschworenen.
Sie war es also, ein wenig lasziv, ein wenig lesbisch, nun eben: Sie hat aus Selbstsucht gemordet.
Bis hierher steht der Fall, aber es geht mit ihm nicht weiter. Zwar muss Frau Brühne nicht selbst gemordet haben. Es ist aber dreimal geschossen worden. Die Figur eines Täters muss in das Gedankenspiel Realität bringen. Man hat ihn bald. Es ist der Kölner Büchsenmacher Johann Ferbach (bei Hark Bohm bis zur Kenntlichkeit entstellt von Uwe Ochsenknecht), der Ende des Krieges auch ein Verhältnis mit Vera Brühne hatte, sie aber in den späteren Jahren seltener traf. Er hatte eine feste Freundin, und ob Vera nun »Frigidchen« oder eine Sexbombe war, könnte sich nach den jeweiligen Männern gerichtet haben. Das soll vorkommen. Frau Brühne kann nicht verurteilt werden, solange der Mann der Tatwaffe nicht feststeht. Das »Lied vom braven Mann« braucht man über Johann Ferbach nicht zu singen, er ist ein qualifizierter Techniker, Eifersucht dürfte ihn nicht gequält haben. In einem Zwischenbericht stellt das Gericht fest: Er scheidet als möglicher Täter nicht aus, kann vielmehr mit der Tat in einen zwanglosen Zusammenhang gebracht werden und hat sich durch verschiedene widersprüchliche Angaben verdächtig gemacht. Dabei wird es bleiben, man beachte hier die Worte »zwangloser Zusammenhang«.
Tatsächlich wird der Zusammenhang durch Polizisten, Staatsanwälte und Richter erzwungen. Sicherlich wäre Johann Ferbach nicht verurteilt worden, hätte etwa sein gewiefter Rechtsbeistand Dr. Alfred Seidl das Mandat nicht abgegeben. Warum er dies tat? Angeblich »hauptsächlich aus finanziellen Gründen«. Das bleibt für mich bis heute das ungelöste Rätsel dieses fehlsamen Prozesses. Er lebt nicht mehr, ich kann ihn nicht mehr fragen.
Johann Ferbach konnte nur verurteilt werden, weil ein klassischer Nicht-Zeuge, ein Lügner und Windbeutel erster Sorte, vom Schwurgericht ernst genommen und vereidigt wurde: ein Kleinverbrecher und Polizeispitzel namens Siegfried Schramm. Solches sei allein Sache des erkennenden Gerichts, stellt der Bundesgerichtshof als einzige Revisionsinstanz lapidar fest.
Das Schwurgericht sah sich vor eine doppelt schwere Aufgabe gestellt. Es musste dem Urteilsvermögen seines Vorsitzenden vertrauen und ihm auch folgen, und es musste vor der deutschen Öffentlichkeit bestehen, die einen Schuldspruch für das gottverlassene Weib dringend verlangte.
Bei Zurückweisung des Zeugen Schramm hätte Ferbach nicht mit hinlänglicher Sicherheit verurteilt werden können, damals gab es noch den Freispruch mangels Beweisen ("zweiter Klasse").
Der sorgfältig zusammengetragene Schuldvorwurf gegen Vera Brühne wäre lautlos in sich zusammengefallen. Auch Hark Bohm kann uns in seinem Film keinen Aufschluss darüber geben, warum »finanzielle Gründe« einen exzellenten Strafverteidiger dazu bringen, einen der interessantesten Schauplätze seines Wirkens zu verlassen, eine Sache im Stich zu lassen, die zu gewinnen er alle Aussichten hatte.
Ein Urteil, das der Vorsitzende einer Strafkammer mit sich selbst im Gespräch findet, kann niemals Rechtsbeugung sein. Irrtümer müssen, so das Bundesverfassungsgericht 1953, dabei »in Kauf genommen werden«.