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Artikel 90 / 119

Mahnmale Mutter im Regen

Von Jürgen Hohmeyer
aus DER SPIEGEL 46/1993

Kann sein, Käthe Kollwitz wäre einverstanden. Vielleicht hätte es sie gerührt und auch ein bißchen stolz gemacht, in einen kargen nationalen Weiheraum eine ihrer Figuren stellen zu dürfen - zudem das plastische Abbild ihrer intimen mütterlichen Trauer und Friedenssehnsucht. Denn durch ihre Grafiken und ihre Skulpturen wollte die Künstlerin, so ihr meistzitierter Ausspruch, »wirken in dieser Zeit«. Das Ende des 20. Jahrhunderts allerdings kann sie damit nicht gemeint haben.

»So etwas wie eine Pieta« war unter ihren Händen entstanden, als Käthe Kollwitz (1867 bis 1945) rund sieben Jahre vor dem eigenen Tod die Skulptur einer alten Frau modelliert hatte, die den Leichnam eines Jünglings umfängt. Noch einmal versuchte die Greisin, mit dem Trauma ihres Lebens zurechtzukommen: Ohne ernsten Widerstand der Mutter war 1914 der Kollwitz-Sohn Peter als 18jähriger Freiwilliger in den Weltkrieg gezogen und, knapp zwei Wochen später, gefallen.

Im Angesicht dieser weltlichen Pieta sollen die Deutschen, aber auch ausländische Staatsgäste künftig vielerlei »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« ehren. Leicht überlebensgroß in Bronze gegossen, sitzt die Trauernde in der Berliner »Neuen Wache«, die am Sonntag zur »Zentralen Gedenkstätte« der Bundesrepublik erhoben wurde.

Ein besänftigender Anblick: Matt blinkt der Kupferton des Metalls im diffusen Novemberlicht, doch Helligkeiten wie Schatten verschmelzen zum Eindruck einer ruhigen Masse, wie Mutter und Sohn. Ohne aufzutrumpfen, beherrscht die Plastik die feierliche Leere des rechtwinkligen Raumes und mildert seine Strenge. Und wenn es regnet, sieht der Betrachter sie plötzlich tränenüberströmt.

Denn der Platz, den nun die Skulptur einnimmt, ist außergewöhnlich inszeniert: Eine runde Deckenöffnung gibt ihn, symbolträchtig, den Naturgewalten preis.

So hatte 1931 der Architekt Heinrich Tessenow die Neue Wache, einen Schinkel-Bau von 1817/18, zur Ehrenhalle für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs umgestaltet. Er wahrte, von kleineren Eingriffen abgesehen, die äußere Würdeform der klassizistischen Tempelfront an der Prachtstraße Unter den Linden. Die ursprünglichen Wach- und Arreststuben im Inneren ersetzte er durch eine einzige, asketisch durchkomponierte Gedenkhalle. _(* Wachablösung des DDR-Regiments ) _("Friedrich Engels«. )

Unter das Wetterloch in der Decke schob Tessenow einen Granitblock als Altar und legte darauf einen metallisch blinkenden Totenkranz. Der Block stand, durch einen Bombentreffer deformiert, bis 1968 in der Neuen Wache.

Dann zog die DDR-Führung es vor, die »Opfer des Faschismus und Militarismus« durch mediokres Design zu würdigen. Unter einem facettierten Plexiglassturz wurde eine ewige Gasflamme entzündet. Eine Steinintarsie mit Hammer und Zirkel verunzierte die Rückwand. Die Deckenöffnung wurde von einer Glasglocke überwölbt.

Im wesentlichen ist Tessenows eindrucksvolle Raumschöpfung nun wiederhergestellt - samt dem originalen Fugenschnitt der Wandplatten, dem Mosaik des bleiverfugten Basaltpflasters und den Abflüssen für Regenwasser. Doch den Altar vertritt - eine vom Bundeskanzler durchgedrückte Wahl - die 1937/38 modellierte Kollwitz-Pieta.

Aller Rührung und vordergründiger Harmonie zum Trotz ist das ein fauler, anachronistischer Kompromiß. Gewiß darf Tessenow so wenig sakrosankt sein, wie es Schinkel für ihn war. Auch ist es 1993 nicht weniger legitim als 1931 oder zur DDR-Zeit, ein bestehendes Bau-Denkmal mit einer neuen Widmung zu versehen. Die aber verlangt dann nach einer angemessenen, auch der Zeit gemäßen Kunstform. Am Jahrhundertende sämtliche »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« aus dem Fundus der dreißiger Jahre abzuspeisen, ist ein Armutszeugnis.

Tessenow hatte einen staatlichen Wettbewerb gewonnen - gegen Kapazitäten wie Ludwig Mies van der Rohe, Hans Poelzig und Peter Behrens. Schwerlich wäre 1931 jemand auf die Idee verfallen, die jungen Toten vor damals 60 Jahre alter, gründerzeitlicher Kunst betrauern zu lassen. Zu stark war das Bewußtsein, der Erste Weltkrieg sei ein beispielloses Inferno gewesen.

Welcher Greuel und welcher Opfer aber am Ende des Jahrhunderts zu gedenken sein würde, konnte auch Käthe Kollwitz 1937 nicht wissen. Ihr Werk, ein Kriegerdenkmal in christlicher Tradition, taugt schlecht für eine Stätte, an der vordringlich der ermordeten Juden zu gedenken ist.

Zumindest eine Ahnung, daß die Zeit für Mahnmale nicht stehengeblieben ist, scheint die Regierungsentscheidung gegen Tessenows Altarblock begründet zu haben. Nach den Regeln der Denkmalpflege hätte er wieder an seinen Platz gehört. Doch für ein nationales Mahnmal wäre der epochentypische gewisse Ruch von schmerzlich-stolzem Heldengedenken, der den Monolith umschwebt, nur peinlich gewesen.

Die Entscheidung für die Neue Wache, Anfang dieses Jahres, beendete eine langwierige Diskussion. Nicht weniger als ein Jahrzehnt wurde in Bonn über eine Gedenkstätte für Kriegsopfer debattiert.

Daß Deutsche, wie andere Nationen auch, öffentlich um ihre Gefallenen trauern wollen, könnte als legitim und unverfänglich gelten; der einzelne Soldat pflegt sich nicht auszusuchen, für welchen Kriegsherrn er ins Feld und in den Tod zieht. Nur wäre es verfehlt, dabei nicht auch an die Ermordeten in den Lagern zu denken. Sie aber pauschal einzuschließen, hat unvermeidlich einen Zug von Bitburg-Gleichmacherei.

Diese Debatte geht auch um die Neue Wache weiter. Vorigen Dienstag ketteten sich Protestierer an das Eingangsgitter des Gebäudes, um die drohende »Verhöhnung« von Nazi-Opfern zu brandmarken.

Dem Protest vor allem jüdischer Gemeinden gegen die einebnende Formel von »Krieg und Gewaltherrschaft« soll ein differenzierender Text auf einer Bronzetafel neben dem Eingang zur Neuen Wache stattgeben. In der Ausführlichkeit eines diplomatischen Kommuniques benennt er Gruppen von Opfern - ohne den Tücken allzu salomonischer Katalogisierung ganz zu entgehen.

Gedacht wird zum Beispiel jener »Unschuldigen«, die »in Gefangenschaft und bei der Vertreibung« starben. Der Schuldigen also nicht? Bei der Erwähnung der »Gefallenen« wird keine solche Einschränkung gemacht.

Derlei sprachlicher Verwirrung entspricht die Verlegenheit heutiger Künstler.

Öffentliche Monumente sind zum Problem geworden. Vaterländische Siegeszeichen und Standbilder für Heroen haben sich überlebt, auf der Tagesordnung stehen Mahn-Appelle und Gedenkstätten für Märtyrer. Doch geschichtsbewußten Vertretern einer meist bilderarmen Kunst ist auch jenes Pathos fremd geworden, das Tessenow und seinen Mitbewerbern noch natürlich schien.

An öffentlichen Aufträgen ist kein Mangel, aber leicht enden sie - so beim Wiener Bildhauer Alfred Hrdlicka, der dem Kriegsterror durch die Darstellung aufgerissener Münder und massakrierter Leiber beikommen will - im bloßen Panoptikum des Grauens. Oder aber bei einem Design des guten Willens.

Jüngstes Beispiel: die »Straße der Menschenrechte«, die der Israeli Dani Karavan vorigen Monat in Nürnberg freigegeben hat. Eine lange Reihe acht Meter hoher Rundpfeiler, die in wechselnden Sprachen mit Artikeln der Uno-Menschenrechtserklärung beschriftet sind, haben zusammen mit einem scheibenartigen Tor-Element ungefähr die Überzeugungskraft einer mäßig modernen Opernkulisse.

Dennoch hat es nicht allein an den Künstlern gelegen, daß sich der Bonner Gedenkstätten-Plan ergebnislos hinschleppte. Bildhauer Ulrich Rückriem, der 1987 dem damaligen Bundesbauminister seinen inspirierten Entwurf für eine Art Grabsteinfeld vorlegte, erinnert sich, der Politiker habe nur wissen wollen, wo denn der obligate Kranz abzulegen sei. Der Künstler wurde grob, und der Dialog war beendet.

Da sich inzwischen Helmut Kohl für Käthe Kollwitz erwärmt hatte, gab es auch in Berlin keine Chance für einen wirklich zeitgenössischen Beitrag. Er hätte vielleicht einer Spur folgen können, die Tessenow selber gelegt hat. Noch während seiner Arbeiten in der Neuen Wache beschäftigte ihn die Idee, auf den Altar zu verzichten und statt dessen ein »abgrundtiefes Loch« im Boden auszuheben.

Das negative Denkmal, die verlorene, vergrabene Form, eine Grube statt triumphierender Standbilder - das ist ein Leitmotiv, um das manche aktuelle Künstler-Ideen zum Thema kreisen.

Als flache, mit Steinbrocken belegte Ausschachtung auf dem Grundriß einer Lagerbaracke zeigt sich beispielsweise ein Denkmal für jüdische Häftlinge auf dem KZ-Gelände von Buchenwald bei Weimar, das vorigen Mittwoch der Öffentlichkeit übergeben worden ist. Die Arbeit der Frankfurter Klaus Schlosser und Tine Steen duckt sich in den Hang - _(* y V. G. Bildkunst 1993. ) in betontem Kontrast zu dem ragenden Glockenturm und Fritz Cremers Bronzegruppe von 1958, die aus den Gefangenen siegreiche Aufrührer macht.

Gleichfalls letzte Woche wurde in Hamburg-Harburg das letzte Stück eines ursprünglich zwölf Meter hohen Metallpfeilers in den Boden eingelassen. Das israelisch-deutsche Künstlerpaar Esther und Jochen Gerz hatte ihn 1986 als »Mahnmal gegen Faschismus, Krieg, Gewalt - für Frieden und Menschenrechte« aufgerichtet, ihn für solidarische Unterschriften sowie, notgedrungen, törichte bis bösartige Graffiti freigegeben und seither in Etappen abgesenkt.

Wie zum Abschied zeigten die beiden das unmöglich gewordene Monument noch einmal vor, um es dann in ihrem Kunst-Prozeß verschwinden zu lassen. Nur unter Vorbehalt und für eine Weile war der Obelisk im Stadtverkehr vertretbar.

In der Neuen Wache waren derartig kühne Kunst-Ideen offenbar nicht erwünscht. Gefragt war eine Trauerszenerie der dreißiger Jahre, die sich nun, wo sie installiert ist, erst recht als ahistorisches Trugbild erweist.

Der Kollwitzsche Gefühlsausdruck wird dazu mißbraucht, Tessenows strenge Stilisierung zu entschärfen. Und die Skulptur selber, die da steht, ist eine manuelle Reproduktion, kein originales Kunstwerk.

Von der Hand der Käthe Kollwitz existiert die Pieta, als Gipsmodell und Bronzeguß, 38 Zentimeter hoch und mit Zügen einer plastischen Skizze. Um sie auf Gedenkstättenformat (152 Zentimeter Höhe) zu bringen, mußte der Berliner Bildhauer Harald Haacke, 69, eine neue Gußvorlage modellieren - mit demütigem Arbeitsethos, einem Lattengerüst zwecks maßstäblicher Übertragung, doch auch mit kreativem Talent.

Man sieht es an befremdlichen Glätten und Schärfen seiner Version, etwa an gekrümmten Fingern mit durchgeformten Knöcheln anstelle einer summarisch, aber sensibel angedeuteten Hand beim Original. Was immer Käthe Kollwitz zu der Nachbildung gesagt hätte: Ihre Handschrift ist verfälscht. Nun steht die Nachschöpfung von Fall zu Fall im Regen - das gilt auch im Sinne von Peinlichkeit. Für die Himmelsdusche mußte die Pieta noch eigens zugerichtet werden: Damit sich in der hohlen Hand des toten Sohnes kein Wasser sammelt, ist die Bronze an dieser Stelle angebohrt.

Jürgen Hohmeyer

* Wachablösung des DDR-Regiments »Friedrich Engels«.* y V. G. Bildkunst 1993.

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