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PHILOSOPHIE / STRUKTURALISMUS Mythen im Labor

aus DER SPIEGEL 13/1967

Der Thron des derzeit residierenden »Directeur de conscience«, des Lenkers von Frankreichs Gewissen und Bewußtsein, Jean-Paul Sartre, wankt.

Roger Garaudy, Philosoph und Kommunist, jüngst zum SPIEGEL: »Wir erleben jetzt das Ende der 35jährigen Herrschaft des Existentialismus, also der Herrschaft Sartres.«

Der »Konkurs« des Existentialismus

»La faillite du sartrisme«, von der kürzlich die linke Literatenzeitschrift »L'Arc« sprach -- ist angemeldet.

Zwar wehrt sich der zur Zeit im Nahen Osten weilende Sartre gegen den Kuckuck auf seinem Oeuvre -- ein Sonderheft seiner Zeitschrift »Les Temps modernes« befaßte sich nur mit Gegnern des Existentialismus -, doch Frankreichs junge Literatengeneration blieb kühl: »Was macht man, wenn einer seine Beerdigung verweigert?« ("L'Arc").

In der Tat ist der pathetische philosophische Wortschatz Sartres -- »Engagement«, »Bewußtsein«, »Freiheit« -- im Rückzug aus den philosophischen Salons von Paris.

En vogue sind jetzt graue Vokabeln wie »Regel«, »System«, »Struktur« und »Code« -- Ausdrücke einer neuen wissenschaftlichen Methode zur Erforschung menschlichen Verhaltens, deren Anhänger sich »Strukturalisten« nennen und deren zur Zeit namhaftester Repräsentant ein Ethnologe ist, Claude Lévi-Strauss, Professor am berühmten Collège de France.

Bereits im Sommer vorigen Jahres verzeichnete die wachsame Londoner Literaturzeitschrift »Times Literary Supplement« einen Gezeitenwechsel in Frankreich: vom Existentialismus zum Strukturalismus, von Sartre zu Strauss. Lévi-Strauss will freilich von der Parole »Le roi est mort! Vive le roi !« nichts wissen: »Ich weigere mich zuzulassen, daß meine wissenschaftliche Arbeit, die auf der Methode des Strukturalismus beruht, gegen Philosophen benutzt wird, für die ich größte Achtung hege.«

Wie immer auch -- der Geist beinahe demütigen wissenschaftlichen Respekts vor Tatsachen hat begonnen, das Freiheits-Pathos Sartres abzulösen.

Als die Kanonen des Zweiten Weltkriegs zum Schweigen gekommen waren, hatte der damals vierzig Jahre alte Sartre über dem befreiten Frankreich die Fahne des Existentialismus gehißt« einer Lehre, in der er dem Menschen Einsamkeit und Freiheit zuschrieb und Tat von ihm verlangte -- revolutionäre Tat« revolutionäres »Engagement« und schließlich revolutionäres Engagement für den Kommunismus.

Frankreichs Jugend hob ihn auf den Schild, freilich mehr die Tristesse der Einsamkeit kultivierend als die blutige Tat. In den Bistros von Saint-Germaindes-Prés nahe den »Hallen«, dem Fleisch- und Gemüse-Großmarkt von Paris, demonstrierten bärtige Jünglinge und schlampige Mädchen-Madonnen ein melancholisch drapiertes, freilich häufig sinnenfrohes Engagement für die Freiheit.

So degenerierte die Lehre des »Directeur« der Nachkriegszeit langsam zum schwarzen Dekor einer keineswegs revolutionären Praxis, er selber zum Kaiser ohne Kleider.

Seine Versuche, »Engagement« zu leben und zu proklamieren, begannen Spott herauszufordern -- so im Falle seines Feldzuges für den Tomaten pflanzenden Fidel Castro.

Die Königs-Mörder nahten sich dem alternden Denker zunächst unerkannt -- keineswegs als Philosophen sich ausgehend, vielmehr in den Gewändern von Psychologen, Sprachforschern, Völkerkundlern, Soziologen und Anthropologen auftretend.

Was sie, die Laboranten der Fachwissenschaften, mitzuteilen hatten, waren denn auch keine revolutionären Postulate, sondern schlichte empirische Beobachtungen -- Beobachtungen über bestimmte Gesetzmäßigkeiten, »Strukturen« der Sprachen, der Mythen, der Kunst und der Gesellschaft. Deshalb nennt man sie Strukturalisten.

Wenngleich ihre Lehren keine Philosophien sind, so enthalten sie doch eine, nämlich die, daß der Mensch »in keiner Unordnung leben kann, gleichgültig, wie nackt er ist«, daß er »Ordnungen baut, nicht nur, wo es nützlich ist« (Lévi-Strauss).

Statt Sartres von revolutionären Taten zu immer neuen Zielen gepeitschter »Geschichte« zeichnet sich eine Welt von konstanten oder jedenfalls relativ konstanten Gesetzmäßigkeiten ab -- und »gesetzmäßig« ist auch die Haltung ihrer Anhänger.

Anders als Sartres Philosophie, die in den fünfziger Jahren den bärtigen Existentialisten-Look kreierte, erweist sich der Strukturalismus als modisch unfruchtbar. Die Lévi-Strauss-Fans, selbst die, die noch Gymnasiasten sind, kleiden sich adrett.

Auf die Welle der Freiheit folgt die der Ordnung, auf eine Position die Konträre, wie schon oft zuvor im Ringen um den Thron im Reich des französischen Geistes.

So trat einst dem alles außer dem denkenden Ich in Frage stellenden Rationalisten René Descartes (1596 bis 1650) der fromme mathematische Mystiker Blaise Pascal (1623 bis 1662) entgegen, dem zynischen Voltaire (1694 bis 1778) der gefühlvolle Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778), dem nüchternen Auguste Comte (1798 bis 1857) der emphatische Henri Bergson (1859 bis 1941).

Wer auf Sartre folgen wird, ist noch ungewiß. Mit Sicherheit indes wird es ein Strukturalist sein -- entweder Roland Barthes, der Philologe, oder Michel Foucault, der Philosoph, oder Jacques Lacan, der Psychoanalytiker, oder Louis Altbusser, der Marx-Forscher, oder Claude Lévi-Strauss, der Ethnologe.

Seit einem halben Jahr vergeht keine Woche, ohne daß Frankreichs Presse über die Strukturalisten berichtet. Tageszeitungen, Monats- und Wochenzeitungen, an der Spitze Frankreichs Nachrichtenmagazin »L'Express«, Studenten- und sogar Schülerzeitungen beteiligen sich am Streit der Meinungen.

Fast alle Strukturalisten nennen sich -- wie auch Sartre -- Marxisten, fast allen wird es von fast allen anderen bestritten. Auch von Lévi-Strauss wird gesagt, daß er von Marx eigentlich nur die »analytische Vernunft« übernommen habe.

In der Tat ist in seinen Äußerungen zum Zeitgeschehen wenig von dem dramatischen Fortschrittsglauben der Kommunisten zu finden -- eher eine Art konservativer Melancholie.

Er finde »wenig Geschmack an dem Jahrhundert, in dem wir leben«, sagte er in einem Interview. Die »totale Inbesitznahme der Natur durch den Menschen« mißfalle ihm, ebenso die Neuerungssucht der modernen Kunst. Sie bekunde lediglich einen »Reizzustand«. und der sei »ungesund. weil zu bewußt«. Wirklich fruchtbare Umwälzungen kämen aus »einer sehr viel weniger bewußten Zone« als der, welcher die moderne Kunst entstamme.

Das Unbehagen des Gelehrten an der modernen Kultur mag freilich mit seiner Wissenschaft zusammenhängen. Von Haus aus Philosoph, entschloß er sich Mitte der dreißiger Jahre -- damals ein End-Zwanziger -, Völkerkundler zu werden, weil er »gerne große Wanderungen macht«.

1908 in Brüssel geboren, ging er 1935 nach Brasilien und stieß bei mehreren Expeditionen auf die versinkenden Kulturen primitiver Völker, ihre Mythen, Gebräuche und Denkweisen.

Aber erst ein Jahrzehnt später begann er, seine Beobachtungen niederzuschreiben. 1949 erschien »Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft«, 1958 »Strukturale Anthropologie« (erscheint im Mai auf deutsch*), 1962 »Der Geist der Wilden« und »Das Ende des Totemismus« (deutsch 1964), 1964 »Das Rohe und das Gekochte« und soeben »Vom Honig zur Asche«.

Die Tatsache, daß Lévi-Strauss erst relativ spät zu Ansehen gelangte, kommt nicht von ungefähr. Obwohl ein

* Claude Lévi-Strauss: »Strukturale Anthropologie«. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main; etwa 450 Seiten; etwa 34 Mark.

geistvoller und witziger Stillst (es fällt ihm nicht schwer, das gesellschaftliche Verhalten nackter australischer Buschneger mit dem Londoner Snobs zu vergleichen), ist er äußerst schwer zu verstehen.

Ein angesehener amerikanischer Anthropologe gestand -- laut »Newsweek« -, er habe »Der Geist der Wilden« viermal gelesen und immer noch nicht verstanden.

Gleichwohl bescheinigt »Le Monde« dem Gelehrten eine »immense« Leserschaft im In- und Ausland, dekretierte jüngst die Londoner »Sunday Times«, die Lektüre von Lèvi-Strauss sei »für den Up-to-date-Intellektuellen einfach eine Notwendigkeit«.

Die Schwierigkeit, Lévi-Strauss zu lesen, besteht nicht zuletzt darin, daß er keine direkten philosophischen Aussagen macht. Er erzählt Mythen, zerlegt sie, »schafft sie ins Labor«, wie er selbst sagt, und untersucht dort experimentierend ihre Elemente.

Am Ödipus-Mythos zum Beispiel oder an der von ihm nacherzählten Indianer-Sage von einem Knaben, der seine Mutter vergewaltigt, von seinem Vater in den Wald geschickt wird und dort dem Jaguar das Feuer raubt, interessiert ihn nicht der Inhalt, sondern die Beziehungen der erzählerischen Elemente untereinander: das Mutter-Sohn-Verhältnis, die Sohn-Feuer-Beziehung, das Oben oder Unten der beschriebenen Abenteuer und so fort.

So stößt er auf stabile, nur selten und dann von Volk zu Volk oder Zeit zu Zeit sanft gewandelte Strukturen -- Gesetzmäßigkeiten, die es, wie er sagt, auch in den modernen Gesellschaften gibt.

Lévi-Strauss selbst vergleicht seine Art des Vorgehens mit der moderner Physiker. Ebenso wie jene die Beziehungen der physikalischen Elemente untereinander -- der Atome, Protonen und Neutronen -- untersuchen, »isoliert« er gesellschaftliche Fakten, versucht sie in Form von »Modellen« menschlichen Verhaltens darzustellen -- »dabei immer nicht die Begriffe, sondern die Beziehungen der Begriffe betrachtend«.

Die politisch-philosophische Pointe dieser Arbeitsweise ist es, die Sartres und seiner Anhänger helle Empörung ausgelöst hat: Wenn es -- wie die Strukturalisten behaupten -- feste, vom menschlichen Willen nahezu unabhängige Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens und gar des Denkens gibt, denkt der Mensch nicht mehr, sondern »wird er gedacht«, wie Sartre selbst vorwurfsvoll schrieb, erfindet nicht mehr der Mensch die Mythen, sondern »erdenken sich die Mythen in den Menschen« ("Le Monde"), spricht nicht mehr der Mensch, sondern »wird er gesprochen« -- von den Strukturen.

In der Welt der Strukturalisten steht die Geschichte der Menschen still, wie ihre Gegner bemerkt haben. »Der Strukturalismus«, zankte denn auch Sartres Lebensgefährtin Simone de Beauvoir« »ist das letzte Werkzeug der Bourgeoisie, um sich dem Emanzipationskampf der Menschheit entgegenzustellen.«

»Mit den Strukturalisten«, diagnostizierte ein ruhigerer Beobachter, der junge Historiker Francois Furet, »hat Frankreich die Ideologen der Entideologisierung gefunden.«

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