
Was kommt nach Corona? Das alte Leben ist ja auch der Horror


Weiße Kleinfamilie als vermeintliche Norm: Sehnsucht der Menschen, in der Masse unterzugehen
Foto: LightFieldStudios, iStockphoto / Getty ImagesWas wollen die Menschen nach einem Jahr Ausnahmezustand am dringendsten? Viele würden sich ihre verstorbenen Angehörigen zurückwünschen. Oder ihr Unternehmen. Ihre Gesundheit. Die meisten wollen vermutlich einfach nur ihr normales Leben wieder. Vergessen der kurze Gedanke an Utopien, an eine gerechte Gesellschaft, an grüne Innenstädte, hohe Steuern für Konzerne, Genossenschaften und glückliche Radfahrende.
»Normalität«, stöhnen die Menschen müde, und es klingt fast, als ob entflohene Geiseln sich zurück in den behaglichen Keller des Entführers sehnen. Zurück zum Gelernten, das aus Arbeit besteht, ohne die der Mensch nicht sein kann.
Er kann nicht sein, der Mensch, ohne für einen Arbeitgeber irgendetwas am Rechner zu tun oder in Regale zu räumen oder hin und her zu transportieren, um sich dann in der sogenannten Freizeit eine Matratze zu kaufen und das Elend wegzuschlafen. Manchmal gibt es keinen Arbeitgeber, dann nennen wir es Selbstständigkeit und meinen damit Selbstausbeutung. Verschuldung, Überstunden, um die Schulden abzutragen – das aber in dem Bewusstsein, die eigene Chefin zu sein.
Die »Normalität« meint oft die Rückkehr von einer unbekannten zurück in die bekannte Angst – die man als Motor des Wachstums bezeichnen kann. Die Angst vor dem Verlust der Wohnung, des Arbeitsplatzes, die Angst vorm Scheitern im sogenannten Wettbewerb, im Rennen um das Überleben in einem System, das außer Bedrohung und Belohnung wenig für seine User zu bieten hat. Außer man hat sich daran gewöhnt. Wir gewöhnen uns an alles, an Dreißigjährige Kriege, an Plastik, an Machtlosigkeit, an das Leben mit Seuchen – irgendwann wird selbst der größte Schwachsinn normal.
Die angebliche Normalität kann gemütliche Routine bedeuten oder Verkaufsversprechen, sie führt jedem seine Unvollkommenheit vor, die man mit dem Erwerb von Zeug beheben kann. Das angebliche Abweichen von der Normalität, von der Norm der blonden, hellhäutigen, schlanken, sportlichen, heterosexuellen Familie mit Auto, Eigenheim, zwei Kindern, sogar der Hund lebt noch. Keiner ist da mit einer Behinderung zu sehen, in den Bildern, die in alle Köpfe gemeißelt stehen, da war keiner und keine schwarz, zu klein, zu groß, zu dick, zu traurig, weinend oder erschöpft, versoffen oder verzweifelt – so wie wir alle aber sind. Normalität, diese Buchstaben gewordene Sehnsucht der Menschen, in der Masse unterzugehen. Und alles abzulehnen, was anders scheint als das innere Bild, dem doch keiner gerecht wird.
Sei wie alle, dann bist du sicher vor dem Ausschluss aus dem Rudel. Benehme dich ordentlich, normal, unauffällig, zahl deine Steuern, wasch deine Gardinen, sonst wird der Mob dich erschlagen mit Fackeln in der Hand. Wenn es schon keine neue Welt gibt nach dem schweren Jahr, dann kann man wenigstens klein beginnen – streichen wir das Wort »normal« aus unserem Wortschatz, es hat schon so oft zur Vernichtung, zu Hass und Krieg geführt. (Wie man etwa hier lesen und da nachhören kann.)
Und nun wünsche ich allen Geduld, Freundlichkeit und den Mut, anders zu sein. Lieben Sie, wen Sie wollen, seien Sie dick oder dünn, rothaarig oder kahl, schwarz, weiß, alt und jung, laut oder leise, verklemmt oder klein. Wir sind viele, in tausend Varianten, und keiner und keine sollte als normal beschimpft werden.