FERNSEHEN Nacktes Entsetzen
Im Foyer herrscht heitere Premierenstimmung. Die städtischen Würdenträger sind zugegen, haben Abstand von drängenden »kommunalpolitischen Geschäften« genommen, um sich »dem kulturellen Leben unserer schönen Stadt zu widmen«.
Im Stadttheater Lüneburg wird, zum Saisonstart, »Der Geizige« von Moliere gegeben -- die erste Inszenierung unterm neuen Intendanten, der »bewußtes«, kritisches Theater versprochen hat. Den Moliere hat ein junger, forscher Regisseur einstudiert, »gegenwartsbezogen« und ohne Rücksicht auf kleinstädtisches Schamgefühl: Im 5. Akt treten erstmals nackte Menschen auf die Heidebühne. Die Honoratioren sind entsetzt, auch Lüneburg hat nun eine schmissige Theaterkrise.
Der Skandal geschah im Herbst 79, vor der Kamera des TV-Filmers Elmar Hügler, der in Lüneburg Material für ein Provinztheater-Porträt sammelte. Hügler betreut bei Radio Bremen die ARD-Reihe »Unter deutschen Dächern«, die dokumentarische Einblicke in deutsche Wesens- und Lebensart vermitteln will. Nach Reportagen etwa über den Frankfurter Hauptbahnhof S.186 protokolliert der Dokumentarist nun den Krach um die Lüneburger Bühne.
Lüneburg, 66 000 Einwohner, führt eines der kleinsten deutschen Dreisparten-Theater, Ballett, Schauspiel, Musikdrama. Der Spielplan war aufs konservative Flachland zugeschnitten, bis der kühne Neue, der Mannheimer Dramaturg Alexander de Montleart, die Intendanz übernahm.
Zwar wollte Montleart treuen Abonnenten den verehrten Lehar nicht nehmen, aber Vorrang sollte künftig in Lüneburg der strenge Geist der Moderne haben. Denn Theater sei doch »auch Massage der grauen Gehirnzellen«. »Konsequent« werde er »diese Konzeption zu Ende führen«.
So ist leicht reden unter deutschen Dächern, die Taten fallen mitunter kläglicher aus.
Kaum waren die Moliere-Nackten ans Licht gekommen, brach »Unruhe« in der Bevölkerung aus. »Restlos empört«, berichten Augenzeugen, hätten Premierengäste die Vorstellung verlassen. Die Entkleidungskunst, rügt ein älterer Schöngeist, »paßt nicht zu Moliere«, den »haben wir in der Schule durchgenommen«. Ähnlich müssen auch die politisch Verantwortlichen gelitten haben, die -- wie der Intendant vor der TV-Kamera meldet -- heftig erwogen hätten, die Aufführung zu untersagen. Im Probensaal, Hügler schätzt ironische Zwischenschnitte, singt währenddessen der »Zarewitsch«-Tenor »Hast du dort oben vergessen auch mich?«
Der zweite Krisenakt folgt mit zwingender Dramaturgie. Denn es stand, als nächstes Projekt, ein wuchtiges, sozialkritisches Stück von Franz-Xaver Kroetz auf dem Spielplan, »Mensch Meier«. Da sollte öffentlich Beischlaf und Onanie vollzogen werden, außerdem wiederum -- »Hose runter]« -- ein Nackter erscheinen. Nun war der Intendant drauf und dran, als Prinzipal einer kommunalen Peep-Show in die Lüneburger Theatergeschichte einzugehen. Die Bürgerwehr wird aktiv, de Montleart kapituliert.
Nach Gesprächen mit »maßgeblichen Politikern« verlangt er szenische Änderungen des »freizügigen Stücks«; der Gastregisseur legt erbost die Arbeit nieder, die gereinigte »Mensch Meier«-Fassung inszeniert der Chef nun selber. Im Operetten-Studio röhrt der Zarewitsch: »Melden Sie meinem Vater, daß ich mich füge.«
So kommt es doch zu einem versöhnlichen, zu einem deutschen Finale. Die Stadtväter spenden jovialen Applaus für den sauberen Meier. Nur der SPD-Oberbürgermeister, der »doch lieber in 'Kabale und Liebe' geht«, hat mit dem Kroetz-Werk Schwierigkeiten: »Was ich immer noch nicht begriffen habe«, sagt er vergrübelt, »ist dieses Stück eine Anklage gegen unsere Gesellschaft gewesen?«
Peter Stolle