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BÜCHER NEU IN DEUTSCHLAND Nächtliche Besucher

Günter Seuren: »Der Abdecker. März; 264 Seiten; 20 Mark.
aus DER SPIEGEL 53/1970

»Is there a life before death?« fragt, MeLuhan zitierend, Günter Seuren ("Das Gatter"), 38, im Motto seines vierten Romans. Die Antwort, buchlang, lautet nein.

In einer Züricher Vorort-Villa vegetieren zwei Schwestern, Anna-Roberta, 78, und Elly, 74, »auf besondere Art": Die beiden Alten kompensieren verlorenes gesellschaftliches Ansehen und ständig entbehrte Sexualität durch Aggressionen gegen eingebildete »Australier«. Diese »Säue«, ein Mann und eine Frau, dringen nachts in das verrottete, vielfach verriegelte Haus ein, kopulieren und verschaffen den angeblich erschreckten Greisinnen eine Art Lebensersatz.

Opfer dieser Halluzinationen wird ein junges Ausländer-Paar, das sich bei den Schwestern einmietet. Zwar äußert es anfangs Zweifel an der Realität der nächtlichen Besucher, doch die Schwestern sammeln so unermüdlich Schein-Beweise für deren Existenz, daß die Untermieter das abgekartete Spiel schließlich mitmachen: Erst übernehmen sie einzelne Attitilden der Alten, später wollen sie die Pseudo-Wirklichkeit der Schwestern als »Wärter« hüten. Und als schließlich ein Psychopath die Schwestern so zusammenschlägt, »daß sie in ein Pflegeheim verbracht werden müssen, schlüpfen die jungen Leute mechanisch in die frei gewordenen Rollen.

In diese Anpassungs-Fabel hat Seuren heterogene Fundsachen in Drehbuch-Manier eingeschnitten: Odysseus, Comic-Heroen, Geburtsstatistiken, Zeitungszitate und Materialien aus einem »Handbuch für die Küche des Gaststättengewerbes«.

Zusammen mit den gewohnt knappen, manchmal witzigen Dialogen und Reflexionen, den oft kaum nachvollziehbaren Assoziationen und den Lyrik-Einschüben ergeben die Fremdkörper ein skurriles Privatissimum, das sowenig Anspruch auf die angestrebte exemplarische Gültigkeit hat wie des Autors Erfahrungen -- Seuren hat beim Schreiben, wie seine Helden, in der Schweiz gelebt und festgestellt: Wer auf dieses Land »reinfällt und zu lange bleibt, kommt nie wieder raus, er sitzt im Zürcher Mottenlicht und ist tot, ohne es zu wissen«.

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