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FORSCHUNG Nächtlicher Hausputz

Träume, so die These des Nobelpreisträgers Francis Crick, seien nur Reparaturarbeiten des Gehirns - nicht ein Schlüssel zum menschlichen Unbewußten. *
aus DER SPIEGEL 34/1983

Verstört steht die junge Frau in einem braunen Zimmer. Plötzlich öffnet sich die Tür: Über eine steile Stiege betritt ein weißhaariges, rotnasiges Männchen in einem grauen Gewand den Raum.

So schilderte eine Patientin dem Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, einen ihrer Träume. Freud wußte Bescheid: »Das Zimmer ist die Vagina, der kleine Mann ist der Penis.« Und Tür wie Treppe, interpretierte der Seelendoktor weiter, symbolisierten den Koitus.

Träume, so hatte es der Wiener Arzt Ende des vergangenen Jahrhunderts schon postuliert, seien verschlüsselte Nachrichten des Unbewußten, eine Art Hellsehschirm, auf dem sich innere Konflikte in flackernden Symbolen und verstümmelten Chiffren abzeichneten. Noch immer gilt Freuds Traumdeutung als eines der wichtigsten Hilfsmittel, mit denen Psychoanalytiker das Seelenleben ihrer Patienten sezieren.

Nun haben ein britischer Biochemiker und ein britischer Mathematiker in der Wissenschaftszeitschrift »Nature« eine Theorie veröffentlicht, die - falls sie sich bestätigen sollte - die in den letzten Jahren ohnehin stark umstrittene Freudsche Traumthese widerlegen könnte.

Francis Crick, für die Entdeckung der Struktur des Erbmoleküls DNS mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, und Graeme Mitchison sehen im Träumen nicht den Königsweg zum Unbewußten, sondern den Versuch des menschlichen Gehirns, sich von unnötigem oder gar störendem Tagesballast zu befreien.

»Wir träumen«, so formulieren es die beiden Wissenschaftler, »um zu vergessen": Gleichsam in einem umgekehrten Lernprozeß lösche das Gehirn durch Träume überflüssige oder irreleitende Erinnerungsmuster. Der nächtliche Hausputz schütze die Menschen vor Halluzinationen und bewahre sie davor, Sinneseindrücke falsch zu deuten - etwa dem Gehirn den Begriff »Tomate« vorzuspiegeln, obwohl das Auge in Wahrheit eine Wildsau wahrgenommen hat.

Bereits 1977 hatten die amerikanischen Psychiater Allan Hobson und Robert McCarley die Traumlehre der orthodoxen Psychoanalytiker erschüttert. Die Forscher entdeckten, daß bei Testschläfern während der Traumphasen von bestimmten am Hirnstamm gelegenen Nervenzellen in regelmäßigen Intervallen wirre Signale ausgesandt wurden - mikroelektrische Impulse, die vornehmlich die optischen und akustischen Nervenzentren in Alarmzustand versetzten.

Auf das konfuse Impuls-Stakkato, so nehmen die Forscher an, reagiert das Gehirn ähnlich wie ein Funker, der eine verstümmelte Morse-Meldung erhält, und der versucht, aus dem Punkt-und Strich-Salat sinnvolle Sätze zu rekonstruieren. Weil auch das Gehirn versuche, aus dem elektrischen Signal-Chaos der Traumperioden Sinn herauszudeuten, so Psychiater Hobson, »sind unsere Träume so bizarr und unverständlich«.

Crick und Mitchison nun nehmen an, daß die chaotischen Impulsgewitter aus dem Stammhirn eine wichtige Funktion haben - daß sie gleichsam das Nervengeflecht der Großhirnrinde (jener Gehirnbereiche, in denen unter anderem Gemüt und Gedächtnis lokalisiert sind) von Knüpffehlern befreien.

Das geschehe vor allem in den traumintensiven Schlafphasen, die von den Neurophysiologen 1953 entdeckt und - nach den auffälligen Augenbewegungen unter den geschlossenen Lidern - als »Rem-Phasen« ("rapid eye movement") bezeichnet wurden. Dabei werden die am Tage geknüpften Verbindungen von Nervenzellen verstärkt oder, falls solche Verbindungen zu Halluzinationen und Fehlinterpretationen von Erlebtem führen könnten, auch gelockert.

Das komplexe Netz der Erinnerungsmuster, nach Ansicht von Neurologen einem _(Inschrift: »Der Traum der Vernunft ) _(gebiert Monstren«. )

Spinnengewebe vergleichbar, bei dem schon die Vibration eines Fadens einen Bewegungsablauf im gesamten Netz erzeugt, verlange geradezu nach einem Mechanismus, der es vor Überlastung schützt. Ohne einen solchen Reparaturmechanismus, so Crick, »hätte die Evolution nicht ein so hochkomplexes Gebilde wie die Großhirnrinde hervorbringen können«.

Etwa fünfmal pro Nacht wechselt ein Schläfer im 90-Minuten-Rhythmus zwischen den traumintensiven Rem-Phasen und dem Tiefschlaf. Fast zwei Stunden verbringen Erwachsene in der Traum-Phase. Neugeborene verträumen bis zu acht Stunden im Rem-Schlaf; bei Ungeborenen zwischen dem sechsten und neunten Monat wurden noch ausgedehntere Rem-Phasen gemessen.

Die langen Rem(Traum)-Phasen Neu- und Ungeborener, von der Psychoanalyse nicht zu erklären, machen im Crick-Mitchison-Modell Sinn.

Zwar knüpft auch das Hirn Erwachsener noch ständig neue Nervenverbindungen und bedarf daher einer Phase, in der Fehler korrigiert werden. Aber bei den noch in der Entwicklung befindlichen Gehirnen von Kleinstkindern, so Crick und Mitchison, sei das Bedürfnis nach der Ausbesserung fehlerhafter Nervenverknüpfungen entsprechend größer.

Auch Computermodelle, bei denen Speicherzellen zu lernfähigen Strukturen verknüpft werden, stützen die These vom Reparatur-Schlaf. Der amerikanische Computerwissenschaftler John Hopfield vom California Institute of Technology demonstrierte an einem mathematischen Gedächtnismodell, daß durch Störimpulse ausgelöste Vergessensschübe die Merkfähigkeit von Kunstgedächtnissen verbessern.

Diese primitiven Gedächtnismodelle sind, wie Crick und Mitchison betonen,

nicht mit den vielschichtigen Vorgängen in der menschlichen Großhirnrinde gleichzusetzen; doch habe auch die Evolution eine dem Computermodell ähnliche Vergessensstrategie entwickeln müssen. Wahrscheinlich, so die Forscher, leiste das Gehirn seine Nachbesserungen am Gedächtnis in der Zeit, während der praktisch alle äußeren Reize entfallen - eben im Rem-Schlaf.

Die von Hobson und McCarley beschriebenen mikroelektrischen Zufallsimpulse des Stammhirns könnten dazu dienen, die vielfältig miteinander verwobenen Erinnerungsmuster anzuregen, um so Fehlstellen im Netzwerk aufzuspüren, meinen die Forscher. Ein noch unbekannter Mechanismus merze sodann die Knüpffehler aus.

Beweise der Crick-Mitchison-These stehen freilich aus. Testschläfer, deren Rem-Phasen mehrere Nächte hindurch unterdrückt wurden, zeigten allenfalls Anzeichen leichter Verwirrung und mangelnde Konzentrationsfähigkeit - nur selten berichteten sie über Halluzinationen.

Länger andauernde Experimente, die beweisen würden, daß die Träume der Rem-Phase tatsächlich die von Crick und Mitchison postulierte Korrektur-Funktion erfüllen, scheinen kaum durchführbar. Den Rem-Schlaf für längere Zeit zu unterdrücken, kommt totalem Schlafentzug gleich: Testschläfer, die ein paar Nächte lang bei Beginn jeder Rem-Phase geweckt wurden, verfallen nach dem Einschlafen sogleich in Rem-Schlaf.

Doch gleichgültig ob sich ihre Theorie bestätigt oder nicht, eine Zukunft - so glauben Crick und Mitchison - habe sie auf jeden Fall. Werde sie für den Menschen widerlegt, würde das ihre Bedeutung für die Entwicklung von Computern »mit künstlicher Intelligenz« nicht schmälern.

Sollte sie sich aber bestätigen, dann hätten Träume als Spiegel der Seele wohl ausgedient. Dann sei ja erwiesen, meinen Crick und Mitchison, daß Träume »genau das Zeug sind, dessen sich das Gehirn entledigen will«.

Inschrift: »Der Traum der Vernunft gebiert Monstren«.

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