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GESCHICHTE / ROBESPIERRE Narziß der Revolution

aus DER SPIEGEL 21/1970

Napoleon I. nannte den »Unbestechlichen« den »Sündenbock der Revolution«; Maximilien Robespierre (1758 bis 1794) selbst, Volkstribun und schließlich für kurze Zeit Diktator, sah sich eher als ihr auserwähltes »Opfer": »Ich glaube nicht an die Notwendigkeit des Lebens, sondern nur an die Tugend und die Vorsehung.«

Die Widersprüche zwischen Denken und Handeln, Tugend und Terror dieses fanatischen Moralisten will ein neues Buch aufklären. Max Gallo, 38, französischer Historiker, Verfasser einer Mussolini-Monographie und einer Geschichte Franco-Spaniens, macht darin als erster Autor den Versuch, eine Psychographie des großen Revolutionärs aufzuzeichnen*.

»Warum«, so fragt Gallo scheinbar naiv, »ist Robespierre Robespierre geworden?« Warum wurde aus dem konformistischen Streber, dem kirchen- und königstreuen Advokaten Robespierre jener Schreckensmann der Französischen Revolution, der politische Gegner und »Verdächtige« zu Tausenden dem Fallbeil überliefert hat -- stets guten Glaubens, im Namen des Volkes, der Gerechtigkeit und der Tugend gehandelt zu haben?

Als Leitfaden benutzte Gallo einen Brief Sigmund Freuds an Thomas Mann, in dem Freud 1936 das Leben des Franzosenkaisers Napoleon Bonaparte analysiert hatte. Napoleon, »Korse, ein zweiter Sohn in einer Schar von Geschwistern«, habe sich im »Urhaß« gegen seinen älteren Bruder aufgelehnt, dieser Haß sei jedoch in Liebe umgeschlagen. Die Folge war: »Hunderttausende gleichgültiger Individuen werden dafür büßen, daß der kleine Wüterich seinen ersten Feind verschont hat.«

Die Hypothese Freuds, eine umgelenkte Ur-Aggression könne Politik und Krieg beeinflussen und den Tod zahlloser Menschen verschulden, überträgt Gallo auf das Leben Robespierres. Er sieht in dem vom Volk bewunderten Revolutionsführer den »Musterfall eines Menschen, dessen ganzes Leben von solchen psychologischen Determinanten beeinflußt wird« -- nämlich von der Haßliebe zum Vater, der die Familie im Stich läßt.

Der Versuch, historische Protagonisten (wie hier Robespierre) auf ihre Neurosen festzulegen, ist weder neu noch allgemein akzeptiert. Vor vier Jahren lieferte der Baseler Publizist Arnold Künzil ein umstrittenes Psychogramm Karl Marxens (SPIEGEL 15/1966). Ein amerikanischer Professor -- Lewis Edinger -- versuchte sich vor fünf Jahren auf psychologische Weise an Kurt Schumacher (SPIEGEL 21/ 1967); in der SPD war man peinlich berührt. Demnächst wird der Freiburger Verlag Rombach in einem Aufsatz-

* Max Gallo: »Robespierre. Die Geschichte einer großen Einsamkeit«. Gerhard Stalling Verlag, Oldenburg; 312 Seiten; 28 Mark.

band »Prolegomena zu einer Psychographie Hegels« veröffentlichen: aus der Feder Künzlis. Hegel-Verehrer ahnen Schlimmes. Was immer von der psychographischen Methode in der Historie zu halten ist, sie erhebt das Private zu politischer Bedeutung.

Mit sechs Jahren verlor Robespierre seine kränkelnde Mutter, die nach der Totgeburt ihres fünften Kindes starb. Daraufhin floh sein Vater, angesehener Anwalt in Arras, nach Deutschland und brachte sich bis zu seinem Tod 1777 als Sprachlehrer durch. Die Sorge für die Erziehung der Kinder fiel auf die Verwandtschaft zurück.

Diese Flucht des Vaters aus der Verantwortung für die Familie wird, so meint Gallo, die »erdrückende Erbschande« von Robespierres Leben. Als Ältester sieht er sich abrupt in die Rolle des Familienoberhauptes gedrängt. Seine Schwester Charlotte beobachtet an ihm »eine Art gewichtiger Würde«. Andererseits klagt er sich selbst für die Flucht des Vaters an, »weil er seinen Vater zugleich liebt und haßt«.

Schuldgefühl, Selbstanklage und Verzweiflung (da er seinem Vater die Schuld am Tod der geliebten Mutter gibt) determinieren von nun an, so Gallo, Robespierres Existenz. Um zu überleben, habe Robespierre die Mitwelt von seinem »guten Willen«, seiner »Unschuld« und seiner »Vollkommenheit« überzeugen müssen. So werden die Suche »nach der Schuld«, der eigenen wie der fremden, und die Sucht »nach der Anerkennung durch die anderen« laut Gallo zu den »beiden Grundtendenzen seines Lebens«.

Schließlich gelten ihm sogar Haß und Furcht als Anerkennung. Gallo: Robespierre »lebt nur durch die anderen, ihre Gleichgültigkeit tötet ihn«. Daher wählt er den »Kampf«. Er will auf jeden Fall der Beachtung sicher sein. In diesem Kampf gegen die anderen darf er sich auch endlich mit seinem Vater identifizieren, der mit allen Konventionen gebrochen hat. Erst als Robespierre selbst mit den Konventionen bricht, wird er zum Mann und hört auf, der »Verräter seines Vaters« zu sein.

Als junger, um Eleganz bemühter Advokat, der Stellung und Studium der Kirche verdankt, und, so Gallo, nur aus sozialer Konvenienz mit »schwerfälligem und kaltem Fleiß« den Damen der Gesellschaft den Hof macht, führt Robespierre plötzlich einen Prozeß gegen seine Wohltäterin, die mächtige Kirche.

Er übernimmt die Verteidigung eines Bürgers, den ein diebischer Benediktinermönch des Diebstahls bezichtigt hat, um sich entlasten zu können. Aber Robespierre wendet den Prozeß ins Politische, indem er die Benediktiner insgesamt angreift und sein Plädoyer publiziert, bevor der Prozeß überhaupt begonnen hat. Wie später in der Revolution spricht er bereits von »unterdrückter Unschuld«, »schlimmstem Elend« und von »Verfolgern«, deren »Ausschweifungen« das Kloster »beschmutzt« hätten.

Entscheidend ist, daß er nunmehr -- wie der von ihm als »göttlicher Mann« verehrte Jean-Jacques Rousseau -- nur noch das eigene Herz als Gewissensstimme und letzte Berufungsinstanz gelten läßt: »Es gibt eine Stimme, auf deren Urteil man bauen kann. Wer immer das Gute getan hat, findet sie in seinem tiefsten Herzen.«

Genau wie Rousseau hat Robespierre nun ständig das eigene gute Gewissen zur Seite, was immer er auch tun mag. Wie Rousseau gibt er »eine sehr große Eigenliebe« zu. Er verbringt Stunden damit, sich elegant zu kleiden, zu pudern und »zu betrachten«; Gallo sieht in dem Volkstribun einen Narziß. Wie ein »Bourgeois« hält er eine Mätresse' die für ihn ein »praktischer Gegenstand ist, den man zurückstößt, wenn er im Wege ist, und den man bezahlt, damit er verfügbar bleibt«.

Diese Reduktion seines sinnlichen Lebens auf den »seltenen, gefühlskalten, weil nur auf sich selbst beschränkten Sexualakt« kennzeichnet Robespierres Unfähigkeit, das »Einssein von Körper und Geist« in der Liebe zu erleben. Sie bestätigt zugleich Gallos nur scheinbar paradoxe Meinung, Robespierre habe sich »auf der Flucht vor sich selbst« verwirklicht, er habe aus seinem Leben eine »Abstraktion« gemacht.

So bleibt Robespierres Leben abstrakt, weil es sich nur auf die Revolution richtet. Aber auch seine Politik bleibt abstrakt, indem sie ständig bloß über die Revolution richtet. Zwar sucht er, so Gallo, den Kampf, und damit die »Feindschaft der realen Gruppe«, also auch des Konvents, der ihn schließlich stürzen wird. Aber zugleich hegt er tiefe Sympathie für das »Volk«, das er freilich nur als »abstrakte Masse« sieht, die von ihm, dem Isolierten Intellektuellen, der Idee nach beliebig geformt werden kann.

Seiner Idee nach ist das Volk für Robespierre der Souverän einer Utopie, einer abstrakten »Republik der Tugend«, die es nicht gibt und die auch Robespierre erst von der Nachwelt erhofft. Der Verlauf der Revolution überzeugt ihn immer mehr von der übermacht der Verderbten, der »Schurken« und »Konterrevolutionäre«.

Die Revolution ist damit für Robespierre ein moralischer Vorgang, ihre realen ökonomischen Bedingungen nimmt er überhaupt nicht wahr: Reichtum verdirbt, und die Armen sind rein -- was Robespierre freilich keineswegs daran hindert, an der »naturgegebenen« Ungleichheit des Eigentums festzuhalten.

So ist Robespierre, wie Gallo zeigt, denn auch gar kein aktiver politischer Revolutionär, der opportunistische Parteipolitik betreibt und sich nach den konkreten Umständen und Ereignissen richtet. Er fordert zwar die radikale Revolution, vermag sie jedoch nicht herbeizuführen, weil er zugleich über den Parteien stehen will und nur »zwei Lager« anerkennt, das der verderbten und das der tugendhaften Menschen.

Robespierre, so meint Gallo, sei es letztlich um die Ausrottung des Bösen durch die Ausrottung der Bösen gegangen. Er sei »ständig In Versuchung, Urteil und Strafe als Lösungen für politische Probleme zu betrachten«. Das erklärt den Terror während der kurzen Zeit seiner Allmacht im Frühjahr und Frühsommer 1794; das erklärt schließlich auch seine eigene Tätigkeit, als einziger Richter über Gut und Böse Verhaftungen anzuordnen und die Berichte der Staatspolizei und der Denunzianten eigenhändig mit Aktennotizen zu versehen, statt, so Gallo, »die direkte politische Auseinandersetzung, den harten Kampf von Mann zu Mann, durchzustehen«.

Für Robespierre heißt laut Gallo Handeln »soviel wie Reden, und Reden heißt soviel wie einen Urteilsspruch fällen«. Noch in seiner letzten Rede vor dem Konvent, in der es um seinen Kopf geht, argumentiert Robespierre nicht politisch: »Ich sehe, daß die Welt von betrogenen Dummköpfen und Schurken wimmelt. Aber die Zahl der Schurken ist die geringere; sie müssen für die Verbrechen und das Unglück dieser Welt bestraft werden.« Sich selbst sieht er »gemacht, um das Verbrechen zu bekämpfen, aber nicht um zu regieren«.

Am 8. Juni 1794 spricht der Diktator zu der Familie, bei der er wohnt, die Worte Christi: »Ich werde nicht mehr lange unter euch wellen.« Am 28. Juli fällt sein Kopf.

Robespierre, der sich In geheimer Todessehnsucht mit dem Volk, der Revolution und der Vorsehung und in alledem mit dem eigenen Vater zu identifizieren suchte, hatte schon 1792 seine Rolle definiert: »Wir sind unerbittlich und unveränderlich wie die Wahrheit, ich würde fast sagen, unerträglich wie die Prinzipien.«

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