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ANTIBABYPILLE Nebel gelichtet

aus DER SPIEGEL 41/1966

Vor sechseinhalb Jahren erschien die Pille, rosarot, in den Regalen amerikanischer Drugstores. Ein Geistlicher nannte sie »die Bombe«.

Sie wurde als wissenschaftlicher Durchbruch bejubelt - und stellte die Wissenschaftler vor Probleme von unübersehbarer Tragweite. Sie befreite Millionen Frauen von Angst und Hemmungen und stürzte Millionen in moralische Zweifel. Ärzte und Soziologen verherrlichten sie als »Segen für die Menschheit«, als »Antwort auf das Problem der Übervölkerung«. Theologen verteufelten sie als Auslöser »hemmungsloser Genußsucht«.

Die Diskussion der katholischen Moraltheologen dauert an. Die medizinische Streitfrage hingegen - ob der Dauergebrauch der Antibabypille zu verantworten sei - ist nunmehr entschieden.

Gleich mehrere wissenschaftliche Gremien erteilten voneinander unabhängig im Verlauf der letzten Wochen und Monate der Pille das Zeugnis medizinischer Unbedenklichkeit.

Zug um Zug kamen die Ständeorganisation der amerikanischen Ärzte (AMA), ein Untersuchungsteam der britischen Regierung, eine Experten-Kommission der WHO und schließlich - Ende August - die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA fast gleichlautend zu dem Resultat:

- Nach Sichtung aller wissenschaftlichen Fakten gibt es keinen Grund für die Annahme, daß der Gebrauch der Pille ernste gesundheitliche Gefahren mit sich bringe.

Grünes Licht für die Pille blinkt seit vorletzter Woche auch den westdeutschen Frauenärzten:

- Auf einem Gynäkologenkongreß in Hannover wurde konstatiert, die Sorge, Antibabypillen könnten

krebsauslösend wirken, sei mit

Sicherheit unbegründet; vielleicht sind sie sogar krebsverhütend.

- Das offiziöse »Deutsche Ärzteblatt«, das allen bundesdeutschen Medizinern auf den Schreibtisch kommt, Verwies auf das ermutigende Resümee der US-Mediziner und empfahl seinen Lesern die Lektüre eines aufklärenden Taschenbuchs. Begründung: »Die Kenntnisse vieler Ärzte ... sind auf dem Gebiet der Empfängnisverhütung nicht selten wenig vollständig.«

Sechs Millionen Amerikanerinnen - rund 15 Prozent aller US-Frauen zwischen 15 und 45 Jahren - nehmen schon jetzt die Antibabypille regelmäßig. In Westdeutschland sind es erst 450 000, knapp vier Prozent der weiblichen Bevölkerung im konzeptionsfähigen Alter. Gegenwärtig bieten Pharmazie-Firmen in zwanzig Ländern der westlichen Welt 80 verschiedene Antibabypillen-Präparate feil. Derzeitiger Jahresumsatz allein in den USA: 360 Millionen Mark.

Doch dies ist, wie Gynäkologen und Meinungsforscher mutmaßen, erst der, Anfang jenes tiefgreifenden moralischen und sozialen Umbruchs, der durch die Pille in Gang gesetzt wurde.

Statistischen Aufschluß über die Verbreitung der Pille in verschiedenen Alters- und sozialen Gruppen gibt erstmals eine Untersuchung, die jüngst in der US-Wissenschaftszeitschrift »Science« veröffentlicht wurde. Dieser Studie zufolge sind es vor allem die jungen Amerikanerinnen, die sich für eine pillengelenkte Familienplanung entschieden haben: 30 Prozent der US -Frauen unter 24 Jahren schlucken die Pille regelmäßig, weitere 31 Prozent haben keine Bedenken, sie bei Bedarf zu nehmen.

Als Hauptkonsumenten der Schutz -Pille wurden die nicht-katholischen Frauen weißer Hautfarbe zwischen 20 und 24 mit höherer Schulbildung ermittelt: In dieser Gruppe nehmen 81 Prozent aller Frauen regelmäßig Antibabypillen.

Ein Grund für die »unerwartet rasche Aufgeschlossenheit« der jungen Amerikanerinnen ist nach Meinung der Forscher die nunmehr endgültig erwiesene Tatsache, daß die Pille - wie kein anderes Verhütungsmittel zuvor - »praktisch hundertprozentigen Empfängnisschutz verleiht« (AMA).

Ein nebuloser Wirrwarr medizinischer und ethischer Vorbehalte hat demgegenüber die Ausbreitung der Antibabypille in der Bundesrepublik bislang gehemmt. Die Mahnungen und Warnungen reichten von der Sorge, das Hormon-Präparat werde die »Schöpfungsordnung« stören (so die von 400 Ärzten unterzeichnete »Ulmer Denkschrift« vom Herbst vorigen Jahres), bis hin zu der von dem Hamburger Gynäkologen Oskar Guhr geäußerten Vermutung, die regelmäßige Einnahme der Pille könne Gebärmutterhalskrebs fördern.

Seit Einführung der Pille wissen die Ärzte, daß sich bei etwa 20 Prozent der Frauen in den ersten Wochen und Monaten gewisse Begleiterscheinungen einstellen, so etwa Übelkeit, leichte Gewichtszunahme und Schwellungen an den Beinen. Doch derlei Symptome klingen gewöhnlich rasch wieder ab oder sind durch Umstellung auf ein anderes Pillen-Präparat zu beheben.

Umstritten war dagegen bislang die gravierende Frage, ob die fortgesetzte Einnahme von Antibabypillen schwere Krankheiten fördern könnte, beispielsweise Lungenembolie, Diabetes, Gebärmutterkrebs oder Brustkrebs.

Seit Oktober letzten Jahres sichtete eine zehnköpfige Experten-Kommission der FDA unter Leitung des New Yorker Gynäkologen Dr. Louis M. Hellmann im Auftrag der US-Regierung alle zu dieser Frage verfügbaren medizinischen und statistischen Befunde. Erst dann wurde das Urteil formuliert.

Zwar mochten sich die FDA-Professoren nicht entschließen, die Pille ein für allemal von jeglichem Verdacht freizusprechen. Eine so weitgreifende Folgerung, meinen die Forscher, lasse sich nach den sechs Jahren seit Einführung der Pille noch nicht ziehen. Überdies könne genaugenommen keine Substanz, »nicht einmal gewöhnliches Tafelsalz«, über lange Zeiträume ganz ohne Risiko eingenommen werden.

Alle konkreten Verdachtsmomente aber konnten aufgrund der bisherigen Erfahrungen in aller Welt nahezu zweifelsfrei widerlegt werden.

- Lungenembolie und Thrombose: Entsprechend dem langjährigen Durchschnitt wären im letzten Jahr unter den fünf Millionen US-Frauen, die regelmäßig Antibabypillen nahmen, 85 Embolie-Todesfälle zu erwarten gewesen. Tatsächlich wurden nur 13 solcher Todesfälle gemeldet.

- Diabetes: Die Annahme, die Pille könne Zuckerkrankheit verursachen, hat sich nicht bestätigt. Allenfalls kann ein schon vorhandener Diabetes bei Dauergebrauch der Pille verstärkt in Erscheinung treten.

- Gebärmutterhalskrebs: Nach einer mehrjährigen Untersuchung des Münchner Frauenarztes Dr. Hans -Jürgen Soost zeigten sich nur bei einem Prozent der mehr als tausend beobachteten Pillen-Benutzerinnen Anzeichen von beginnendem Gebärmutterhalskrebs, obwohl nach dem Bundesdurchschnitt drei Prozent zu erwarten waren.

- Brustkrebs: Nach der statistischen Erwartung hätten unter den fünf Millionen US-Frauen, die regelmäßig die Pille nahmen, im letzten Jahr einige hundert Fälle von Brustkrebs auftreten müssen - beobachtet wurde jedoch nur ein Fall.

Ebensowenig bestätigt hat sich die Befürchtung, daß nach jahrelangem Einnehmen der Pille die Fruchtbarkeit der Frau beeinträchtigt werden könnte. Manche Beobachtungen deuten im Gegenteil darauf hin, daß viele Frauen nach dem Absetzen der Pille besonders leicht konzipieren.

Angesichts dieser positiven Resultate entschloß sich die US-Arzneimittelbehörde, ihre Empfehlung, die Pille dürfe nicht länger als (je nach Präparat) eineinhalb bis vier Jahre hintereinander verschrieben werden, aufzuheben. Einziger gewichtiger Vorbehalt der Gynäkologen: Die Pille darf nicht während einer Gelbsucht oder bei anderen Leberschäden eingenommen werden.

Nach der Zwischenbilanz der Mediziner werden nun auch die katholischen Moraltheologen mit ihrem Urteil über die Pille kaum länger zögern können. Noch in diesem Jahr will Papst Paul VI. entscheiden, ob auch für Katholiken die Pille erlaubt sein soll.

Guten Glaubens freilich scheint ein Teil des katholischen Kirchenvolks das zu erwartende vorsichtige Plazet aus Rom schon vorwegzunehmen: 21 Prozent der katholischen Frauenschaft unter 45 Jahren in den USA nehmen oder nahmen schon die Pille.

Neuerdings dürfen sie dabei sogar auf geistlichen Beistand hoffen. In einem Priester-Fachblatt der Erzdiözese Chicago riet vorletzte Woche Pfarrer Joseph T. Mangan seinen Amtsbrüdern, »wegen der unübersichtlichen Lage in der Kirche« müsse man den Gebrauch von Antibabypillen tolerieren - wenn sich erweise, daß die Sünderin sie »reinen Gewissens« geschluckt habe.

Beratungsstelle für Geburtenkontrolle in New York: Bombe entschärft

Stern

»Antibabypillen gefällig?«

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