ARCHITEKTUR Nest der Freiheit
Wer das Olympia-Stadion von Peking im vergangenen Jahr gesehen hat, begangen hat, in sportlicher Aktion erleben durfte, braucht erklärende Artikel über seinen Zauber nicht mehr zu lesen. Aber selbst wer es nur von Fotos kennt oder aus dem Fernseher, hat eine Ahnung davon, dass dieses »Vogelnest«, 333 Meter lang und 294 Meter breit, nicht irgendein Bauwerk ist, sondern sehr wahrscheinlich eine frühe Ikone des 21. Jahrhunderts.
Die Arena ist, mit 69 Meter Höhe, fast exakt so hoch wie die Türme von Notre-Dame in Paris. Das mag Zufall sein, aber wer sich vom Anblick dieser Bauwerke hat rühren lassen, war bewusst oder unwissentlich auch vor die Frage gestellt, was es auf sich haben könnte mit der Idee von einem »menschlichen Maß« in der Architektur.
Nicht zu groß, nicht zu klein, nicht zu massig, nicht zu bescheiden, nicht zu pompös, nicht zu trivial, nicht zu komplex, nicht furchterregend und nicht falsch beruhigend - wir wissen viel darüber, was wir nicht leiden mögen, aber wenig davon, was wirklich sein soll. Vielleicht liegt darin der Schock von wirklich großen Bauwerken: dass sie in tiefem Sinne »richtig« sind, dass sie »stimmen«, dass sie zu unserem Lebensgefühl passen und dass sie deshalb zu allen Menschen reden und Bilder prägen für die ganze Welt.
Das »Vogelnest« ist so ein Wurf, ein Eiffelturm, eine Sydney-Oper, ein Münchner Olympia-Stadion, ein Guggenheim-Museum in Bilbao, und vielleicht größer als sie alle, selbstverständlich steht es da, als hätte der Ort, als hätte die Zeit schon lange auf seine Ankunft gewartet.
Der Ort, Peking, dreitausendjährig, mit einer Verbotenen Stadt im Zentrum, schmückt sich mit einem Olympia-Park an seinem nördlichen Rand. Das Versprechen, das er gibt, die Aussicht auf Transparenz und Leichtigkeit, auf Offenheit und Demokratie, ist lange noch nicht eingelöst. Und doch - ist nicht diesen Ideen jetzt ein Nest gebaut mitten in China, in dem sie schlüpfen könnten, eines Tages? Und ist es dabei nicht am Ende ganz egal, ob die Bauherren das so wollten oder immer nur so taten, als ob?
Unbegreiflich weiterhin, wie es überhaupt gelungen ist, allein bautechnisch: Das Werk der Schweizer Architekten Pierre de Meuron und Jacques Herzog besteht im äußeren Geflecht aus 42 000 Tonnen Stahlträgern, im Innern ruht eine Betonschale von immenser Größe, in der während der Spiele 91 000 Menschen Platz fanden.
Die verästelten Stahlteile, es sind Tausende, haben kaum je dieselbe Form und sind miteinander verschweißt. Es gibt in diesem Aufbau, man stelle sich vor, keine einzige Schraube, keine Niete, nur die Frage: Wie kann so viel Stahl so leicht daherkommen?
Auch das kann, wer will, symbolisch lesen. Wie findet das gewaltige China seine Rolle im Gebälk der Weltpolitik? Wie schwer, wie leicht wird sein Auftritt sein? Wird das Land den Weg ins Freie finden?
Die Skeptiker sind bis auf weiteres in der Mehrheit. Sie zweifeln nicht daran, dass dieses Jahrhundert das chinesische werden könnte, an dessen Anfang ein Stadion stand, aber sie fürchten sich vor dem eisernen Griff der Diktatur, der sich auch in bald 20 Jahren sozialistischer Marktwirtschaft nicht gelockert hat, Weihnachten beispielsweise wurde der chinesische Dissident Liu Xiaobo zu elf Jahren Haftstrafe verurteilt.
Zu den Skeptikern zählt der rätselhafte chinesische Künstler und Freigeist Ai Weiwei, Berater beim Entwurf des Vogelnests.
Dass er sich vom eigenen Bauwerk distanziert habe, wurde immer wieder berichtet, stimmte aber nie. Ihn störte, wie der Bau bespielt wurde, am 8. August 2008 abends um acht Uhr, als die ersten chinesischen Olympischen Spiele mit der Glückszahl acht begannen, aber auch mit knallenden Stiefeln und Fahneneiden und rhythmisch flutenden Menschenmassen. Das Bauwerk selbst hat Ai Weiwei nie verurteilt, und das aus gutem Grund.
Es steht da nicht wie hingebaut, sondern wie von der Natur gebastelt, rot und wärmend schimmert es hinter den eisgrauen Stahlträgern, und alles hält eine ganz eigene Balance zwischen Wucht und Zartheit, die unerhört ist, anrührend, schön.
So schön, dass die allfälligen politischen Nachhakereien, die ethischen Bedenken, die gezirkelten Polemiken darüber, wie und ob sich Architekten zu Bütteln diktatorischer Regime machen und dafür ganze Stadtviertel verschwanden, schweigen wollen. Jedenfalls für den Moment des ersten Betrachtens.
Und ganz bestimmt in dem Moment, in dem man dieses Stadion betritt und merkt, dass es dort drinnen keinerlei Angsträume gibt, dass nichts drückt, nichts lastet. Der Durchgang von außen ins Innere ist ein architektonischer Zaubertrick, man gelangt hinein wie Parsifal in die Gralsburg, unmerklich, mühelos, man schreitet kaum, doch fühlt man sich schon weit, und genau so erging es wohl vielen Athleten aus aller Welt, die das Oval betraten im olympischen Sommer. ULLRICH FICHTNER