Zur Ausgabe
Artikel 54 / 79

ATOMPHYSIK Neue Düsternis

aus DER SPIEGEL 46/1966

Nur aus dem Flugzeug ist das seltsame Bauwerk nahe der Schweizer -Ortschaft Meyrin westlich von Genf ganz zu überblicken: ein ringförmiger Wall, zweihundert Meter im Durchmesser, von acht Streben sternförmig durchzogen wie ein liegendes Riesenrad. Die Anlage, von Gras überwachsen, erinnert an eine Kultstätte der Vorzeit.

Die Menschen unten, im Areal des Kult-Rades, vollführen in der Tat einen rätselhaft anmutenden Ritus. Im Licht von Tiefstrahlern türmen Kräne in weitläufigen Hallen Betonklötze zu zyklopischen Landschaften. Forscher in weißen Mänteln kampieren vor flackernden Schaltpulten; Techniker in grünen Overalls montieren unter Pappdächern und Zeltplanen Batterien von Meßgeräten. Frauen sortieren in abgedunkelten Räumen vor Mattglas-Schirmen Filme, auf denen nichts zu sehen ist als ein Gewirr bizarrer Lichtspuren.

Im Innern des Ringhügels, in einer von tonnenschweren Magneten, Vakuumpumpen und Hochfrequenzapparaturen umstellten kreisförmigen Tunnelröhre, fliegen annähernd mit Lichtgeschwindigkeit winzige Materieteilchen: Kerne des Wasserstoffatoms (Protonen) - Bausteine der Welt.

Zweitausend Menschen halten die Ringanlage von Meyrin mit einem Aufwand von jährlich 150 Millionen Mark Tag und Nacht in Betrieb. Sie ist das Herzstück des europäischen Kernforschungszentrums Cern*. Ihr Name: »PS« - Protonen-Synchrotron (Protonen-Beschleuniger).

Die Geschichte dieser Maschine, die Hoffnungen und Ziele ihrer Erbauer schildert der Wissenschaftsautor Robert Jungk ("Heller als tausend Sonnen«, »Die Zukunft hat schon begonnen") in einem Buch, das jetzt im Münchner Scherz Verlag erschien**.

Der Bericht gilt einem der erregendsten und zugleich fragwürdigsten Unterfangen moderner Naturwissenschaft: Auf keinem anderen Wissenschaftsgebiet sind die Versuchsapparaturen so kostspielig - und sind zugleich die Forschungsziele derart ungewiß, die Resultate derart unscheinbar wie in der Physik der Atomteilchen, jenem Forschungszweig, dem die von Jungk beschriebene Maschine dient. »Das Endprodukt«, so notiert Jungk, »sind 'nur' Buchstaben und Zahlen.«

Es sind die Zeichen und Formeln, mit denen die Physiker - »wie sie annehmen, immer genauer« (Jungk) - eine Welt zu beschreiben suchen, die sich der herkömmlichen Anschauung entzieht.

Oft haben die Forschungsobjekte nur ein flüchtiges Dasein. Die Lebensdauer mancher Atomteilchen kann nur in millionstel Sekunden gemessen werden. Und sichtbar wird buchstäblich nur die Spur ihrer Existenz - ein Strich auf einer Photoplatte, der die Flugbahn eines atomaren Teilchens zwischen Entstehen und Vergehen nachzeichnet.

Haupthemmnis auf dem Erkundungsvorstoß in die Welt der kleinsten Dimensionen aber ist die paradox anmutende Tatsache, daß zum Erforschen immer kleinerer Partikel immer größere Apparaturen, immer höhere Energien und größerer Aufwand nötig sind.

Anfangs zogen die Erforscher des subatomaren Kosmos ins Gebirge. Mit empfindlichen Photoplatten fingen sie auf den Gipfeln der Abruzzen, der Pyrenäen und im schottischen Hochland die Bahn-Spuren zertrümmerter Atomkerne ein - in großen Höhen kollidieren häufig energiereiche kosmische Strahlen mit irdischen Atomen. Doch dieses Verfahren nach Art eines Schmetterlingsjägers genügte nicht, solche Kern-Treffer systematisch zu studieren.

So entschlossen sich die Physiker, das Weltall auf der Erde nachzuahmen: Beschleunigungsenergien, wie sie im Makrokosmos einem Atomkern beim Passieren galaktischer Katastrophen mitgegeben werden, wurden nun gleichsam auf dem Experimentiertisch simuliert

- in den »Großen Maschinen«.

Die Amerikaner bauten solche Hexenkessel der Atomteilchen in Berkeley, Argonne und Brookhaven, die Sowjets in der Atomstadt Dubna nahe Moskau. Die Europäer konnten einen Teilchen -Beschleuniger von der Größenordnung des Cern-Synchrotrons nur in gemeinschaftlicher Anstrengung errichten.

Dreizehn Nationen teilen sich in die Finanzierung der Cern-Forschung. Die Internationalität der bei Cern arbeitenden Forscher ist noch umfassender. Fast alle maßgeblichen Teilchen-Physiker der Welt - die sich ohnehin auf »Cernois« verständigen, dem Cern-Idiom aus Brocken aller Weltsprachen, vermischt mit wissenschaftlichen Spezialausdrücken - haben in Meyrin Vorträge gehalten oder eigene Versuche angestellt.

Experiment E 45 beispielsweise - »Protonenbestrahlung mit einem Magnetfeld von 200 Kilogauß« - wurde von Instituten in Valencia, Moskau, Neu-Delhi und Alma Ata gemeinsam geplant und ausgeführt. Bis zu neun solcher Versuchsreihen, jede von einem eigenen Forscherteam überwacht, können gleichzeitig an den Beschleuniger-Ring des Cern-Labors angeschlossen werden.

Fast ohne Pause ist die Maschine in Betrieb. Gleichsam am Einlaß des atomaren Karussells - in einem Keramiktopf - wird Wasserstoffgas mit hohen elektrischen Energien aufgeladen und komprimiert, bis die Atomkerne des Wasserstoffs (Protonen) von den umhüllenden Elektronen frei sind. Diese Protonen werden dann magnetisch zu einem Strahl gebündelt und auf der Teilchen -Rennbahn im Vakuum der kreisförmigen Röhre mit immer höherer Geschwindigkeit vorangetrieben.

Einige millionenmal werden die Protonen von den entlang der Kreisbahn angeordneten Riesen-Magneten um den 628 Meter langen Rundkurs gejagt, bis sie ihre Höchstgeschwindigkeit (etwa eine Milliarde Stundenkilometer) und ihre maximale Energie (28 Milliarden Elektronenvolt) erreicht haben**.

Auf Millimeterbruchteile genau gelenkt, prallt der Protonenstrahl schließlich auf einen dünnen Draht aus Aluminium, Beryllium, Kupfer oder Gold. Bei diesem Aufprall zerbersten die Protonen in Schauer kleinerer Partikel - lautlos und unsichtbar.

Sichtbar werden die Zerfallsprozesse den Physikern erst in einer mit Flüssigwasserstoff gefüllten Apparatur, einer »Blasenkammer«, in deren Innern die elektrisch geladenen Bruchstücke der mikrokosmischen Kollisionen - Sternschnuppen ähnlich - Spuren winziger Blasen hinter sich lassen, die ihre Bahnen markieren.

»Aus sieben oder acht Notenlinien«, so beschreibt Robert Jungk das Schauspiel hinter der Sichtscheibe einer Blasenkammer, »steigt ein Halbmond, von dem ein winziger Nebenmond abgestoßen wird, und stürzt, stürzt, bis er sich in hohen Gräsern verliert, die sich aufspalten, winzige Kügelchen um sich verstreuend, aus denen nun ein Gitter von dünnen Silberdrähten in den Himmel wächst.«

Automatische Kameras registrieren

- in Hunderttausenden von Einzelphotos - jede Phase des surrealistisch anmutenden Bläschen-Balletts. Die Auswerterinnen ("scanning girls") lassen mitunter Hunderte oder sogar Tausende solcher Photos an sich vorüberziehen, ehe sie auf das Gesuchte stoßen: ein Bild, dessen quirlige Spiralen und Eisblumen -Muster ihnen das atomare Ereignis« anzeigen, ein »event«, wie die Kernphysiker jede sichtbare subatomare Wechselwirkung nennen.

Aus solchen Aufnahmen - aus der Krümmung der Blasenspuren, ihrer Dicke, Länge, Richtung und ihrem Winkel zueinander - rekonstruieren die Forscher dann die Art und das Schicksal der flüchtigen Elementarteilchen.

Die Photos aus der Unterwelt des Atoms sind Rohmaterial - für neue Formeln und neue Theorien, die in Diskussionen vor Wandtafeln, auf den Wandelgängen oder auch in der Kantine Gestalt gewinnen. Bei Cern, bemerkte Atom-Journalist Jungk, sind die Cafeteria-Tischtücher aus Papier. Grund: Zahlen und Kurven, die bei Tische hingekritzelt werden, müssen mitgenommen werden können.

Vor sieben Jahren, als das Protonen -Synchrotron in Meyrin (reine Baukosten: 220 Millionen Mark) zum erstenmal mit voller Energieausbeute lief, war es der Welt größte und modernste Apparatur dieser Art. Doch die Maschine erwies sich als so kurzlebig wie ihre geisterhaften Produkte, die Atomteilchen: Sie ist schon veraltet.

In der Sowjet-Union, bei Serpuchow südlich von Moskau, ist gegenwärtig ein Beschleuniger im Bau, der Ende nächsten Jahres 70 Milliarden Elektronenvolt, die zweieinhalbfache Energie der Cern-Maschine, liefern soll. Die Amerikaner planen ein Synchrotron mit 200 Milliarden Elektronenvolt Leistung. Und auch in Europa soll noch im kommenden Jahrzehnt ein Super-Nachfolger des Riesenrings von Meyrin entstehen zehnmal so energiereich wie das jetzige Cern-Synchrotron, zwölfmal so groß im Durchmesser und wenigstens fünfzehnmal so teuer.

Diese Entwicklung veranschaulicht das Dilemma der modernen Atomphysik: Je exakter die Wissenschaftler Schritt um Schritt die flüchtigen Erscheinungen im Innern des Atomkerns enträtseln, um so größere Rätsel tun sich auf.

So peinigend ist für die Physiker der Teufelskreis zwischen Aufhellung und neuer Düsternis im atomaren Mikrokosmos, daß sie mitunter selber schon bezweifeln, ob ihr Tun sinnvoll sei.

»Sind wir«, fragte der Cern-Forscher Professor Giuseppe Cocconi, »auf der Spur von Problemen, die nur von unseren Maschinen erzeugt werden?«

Eine Antwort versuchte der amerikanische Physiker Val Fitch, Professor an der Princeton-Universität im US-Staat New Jersey, als er vor einem parlamentarischen Ausschuß in Washington die kostspieligen. Vorhaben der Teilchen -Physiker zu rechtfertigen hatte: »Der Punkt, um den es geht, ist doch, daß wir auf diese Weise das Universum besser verstehen lernen, und das hat in der Vergangenheit, soviel ich weiß, stets großen Nutzen gebracht.«

Aber der Fürsprecher, der Großen Maschinen mußte auch einräumen: »Wenn Sie mich fragen, ob die Menschheit dadurch leichter zu Brot und Butter kommen wird, dann muß ich Ihnen sagen: Das weiß ich nicht.«

* Cern: Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire - Europäischer Rat für Kernforschung.

** Robert Jungk: »Die große Maschine. Auf dem Weg in eine andere Welt«. Scherz Verlag, Bern, München, Wien; 272 Seiten; 19,80 Mark.

** Elektronenvolt: Energiezuwachs, den ein Elektron beim Durchlaufen von einem Volt Spannung erhält.

Atomforschungszentrum Cern: In den Kultstätten des Jahrhunderts ...

Autor Jungk

... Zweifel am Sinn des eigenen Tuns

Zerfallende Atomteilchen*

Flüchtiges Ballett

* Blasenkammer-Aufnahme.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 54 / 79
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren