POPMUSIK Neue Priester
Die Rockmusik«, sagt Jim Kerr, »hat einen besseren Menschen aus mir gemacht.«
Daran glaubt er unerschütterlich, und deshalb turnt er abends vor Tausenden über die Bühne, leistet harte Showarbeit und hofft, damit auch den einen oder anderen Zuschauer in ein besseres Wesen verwandeln zu können.
Kerr, 25, ist der Sänger, Texter und umjubelte Star der schottischen Rockband »Simple Minds«. Nach langer Tingelei durch kleine Läden in Europa und den USA und nach experimentierenden New-Wave-Umwegen sind die »Schlichten Gemüter« nun dort angelangt, wo es sich lohnt, ein besserer Mensch zu sein - auf dem Gipfel des Erfolgs.
Um dieses Ziel zu schaffen, haben sie ihre musikalischen Ecken und Kanten abgeschliffen, seit sie in den späten siebziger Jahren debütierten. Sie sind in den Rock-Mainstream eingetaucht, und 1985 hat sich die Suche nach der Stromlinie besonders kräftig ausgezahlt.
Die »Simple Minds«-Single »Don't You« wurde ein Welthit, und die LPs der Gruppe stehen mit einer Auflage von rund fünf Millionen Exemplaren zu Buch. Ihr neuestes Album, Titel: »Once Upon A Time«, wurde allein in Deutschland 250000mal verkauft.
Die Schotten füllen die größten Hallen. Von diesem Montag an werden die »Simple Minds« ihren umfangreichen Tournee-Apparat durch die Bundesrepublik dirigieren. Dann wird Kerr, wie überall, wo der charismatische Sänger auftritt, sein junges Publikum mit ekstatischen Predigergebärden, mit opernhaftem Pathos und triumphierendem Gesang in einen Zustand der Seligkeit heben, den es in der trüben Welt außerhalb solcher Rock-Großveranstaltungen kaum erlebt.
Der Erfolg der Band zeigt, daß die Zeit wieder reif ist für Show-Pomp, getragenes Soundgetöse und verschwenderische Beleuchtungseffekte. Das große Illusionstheater der Rockmusik, das in den Dinosaurier-Zeiten der siebziger Jahre allmählich an Gigantomanie, Hohlheit und an Suff- und Drogenexzessen der Stars erstickt und dann schließlich vom Fußtritt der Punks erledigt worden war, ist wieder da.
Anders als die Stars der siebziger Jahre bemühen sich Kerr und die Kollegen mit fast rührender Vergeblichkeit, die Fehler von damals zu vermeiden. Sie geben sich lieb, brav, nett und sauber und sind allzeit bereit, ihr reines Herz zu zeigen. Und das, so suggerieren sie, schlage im gleichen Takt wie das des Publikums.
Angeführt vom heiligen Bruce Springsteen aus den USA, hat sich, von geschäftstüchtigen Managern geführt, eine neue Generation von Rockmusikern nach vorn gespielt, die mit missionarischem Eifer und quasireligiöser Inbrunst ihr Publikum zu Glaube, Liebe, Hoffnung bekehren möchte.
Wie Springsteen, der Junge aus New Jersey, haben sich der Sänger Bono und seine Band »U 2« aus Dublin, Jim Kerr und seine »Simple Minds« aus Glasgow und eine wachsende Zahl weiterer Rock-Attraktionen auf den Kreuzzug gegen Zynismus und No-future-Gedanken begeben. Sie präsentieren sich als Kumpel aus dem Volke, predigen gegen Verzagtheit und für Zuversicht, und wenn die Welt voll Teufel wär'. Ihre Massenkonzerte gleichen Erweckungsveranstaltungen.
So sangen, beim »Simple Minds«-Konzert in Brüssel, 9000 Jugendliche minutenlang eine gewaltige Hymne herunter, während die Band pausierte und ergriffen von der Bühne auf die Gemeinde blickte. Und Kerr verkündete, die riesige Konzerthalle sei »viel intimer« als die Brüsseler Diskothek, in der die schottischen Newcomer fünf Jahre zuvor nur 100 Leuten aufgespielt hatten. Das Publikum glaubt's und ist selig.
Und so rackert sich Kerr in seinen Konzerten redlich ab, dem Publikum die Empfindung zu nehmen, es sei bloß eine anonyme Masse aus zahlenden Besuchern. Für jeden noch so kleinen Zwischenbeifall bedankt er sich ausführlich.
Und fast mit schlechtem Gewissen erklärt er, er kenne die Höhe der Eintrittspreise und wisse, wie schwer dieses Geld aufzubringen sei.
Im Geiste der Pop-Wohltäter, die 1985 beim Afrika-Benefizkonzert »Live Aid« zur weltweiten Hungersammlung angetreten waren, wird Politik für Kerr »mit einem kleinen p« geschrieben. Von den plakativen Slogans der sechziger Jahre hält er nichts.
»Anzunehmen, daß Rockmusik irgendwelche rebellischen Kräfte hätte« erkennt Kerr, »ist Unfug, ein reiner Mythos. Die Regierungen sind clever genug, mit Rebellen umzugehen. Die erlauben der Jugend doch ausdrücklich ein paar Jahre verrückt zu spielen.«
Kein Wunder, daß sich Jugendliche nun wieder verstärkt in die Innerlichkeit flüchten und Mammut-Popveranstaltungen wie die von Springsteen, »U 2« und »Simple Minds« immer mehr zu weihevollen, braven und frömmelnden Massentreffen werden, in denen sich die Kids ein bißchen Mut machen.
Denn allen Ermunterungen zum Trotz, mit denen Kerr das Publikum »aufbauen« möchte, weiß er auch, daß zur Hoffnung wenig Anlaß besteht: »Früher bist du in der Schule gefragt worden: Was willst du denn mal werden? Aber heute«, sagt Simplizissimus Kerr, der in einem Slum von Glasgow als Sohn eines Bauarbeiters aufgewachsen ist, »ist diese Frage eine Unverschämtheit. Die Jugendlichen wissen aus der Statistik, daß sie wahrscheinlich nie Arbeit kriegen werden.«
Das ist der Boden, auf dem Popstars wachsen.