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KUNST Neues Konzept

aus DER SPIEGEL 19/1971

Der Schweizer Künstler Daniel Spoerri griff wieder einmal in die Abfallkiste. Er raffte gebrauchte Pinsel, ein leeres Fläschchen mit Zerstäuber, den Fuß einer Spielzeuglampe und einen abgebrochenen Zollstock zusammen, nahm auch ein wenig Draht, einen Stein sowie ein Stückchen Holz und montierte alles auf ein Brett. Den Titel für sein Stilleben schnitt Spoerri aus einer Zeitung und klebte ihn dazu: »Das Ringen um den Gegenstand«.

Dieses von Spoerri 1964 spielerisch demonstrierte Ringen ist ein wahrer Massen- und Freistilkampf, in den die Künstler seit Generationen verwickelt sind. Der -- tote -- Gegenstand, das »Objekt«, fasziniert und inspiriert sie so stark, daß sein Eintritt in die Kunst »als die wichtigste Antriebskraft für die Bewegungen der modernen Bildnerei gelten kann«.

So urteilt Werner Haftmann, Direktor der West-Berliner Nationalgalerie, aus Anlaß einer Ausstellung »Métamorphose de l'objet« (Verwandlung des Gegenstandes), die augenblicklich im Brüsseler Palais des Beaux-Arts, im Herbst auch in Berlin gezeigt wird; weitere Stationen: Rotterdam, Mailand, Basel und Paris.

Für die Rundreise sind Beispiele künstlerischer Gegenstandsverwandlung, jenes »geheimnisvollen Dramas in den Zwischenräumen« von Mensch zu Objekt (Haftmann), in bislang unerreichter Fülle aufgeboten: 234 einschlägige Werke seit 1910. Anders freilich als bei der kleineren Nürnberger Schau »Das Ding als Objekt« vom vorigen Sommer umfaßt diesesmal das Thema nicht nur die »Objekt-Kunst« aus vorgefundenen Werk-Stücken, sondern beispielsweise auch gemalte Dinge von Chirico-Keksen bis zu Gnoli-Schuhen. Und neben prägnanten Kernstücken ist in Brüssel mancherlei Füllmaterial zu sehen.

Der Angelpunkt der Ausstellung ist aber jedenfalls das Werk Marcel Duchamps (1887 bis 1968). Sein Entschluß, ausgewählte Industrieerzeugnisse wie das Rad eines Fahrrads, einen Flaschentrockner oder -- als »Fontäne« -- ein Pissoirbecken ins Museum zu holen (seit 1913), war vermutlich die folgenreichste Kunst-Tat des 20. Jahrhunderts. Duchamp über Duchamp: »Er hat ein gewohntes Element unseres Lebens so dargeboten, daß seine praktische Bedeutung hinter dem Titel und dem neu gewählten Gesichtspunkt verschwand. Er hat ein neues Konzept für dies Objekt geschaffen.«

Duchamps Konzept des unveränderten, nur neu betrachteten Objekts ("Readymade") und die schon vorher praktizierte Technik der Kubisten, alltägliche Papierfetzen in ihre gemalten Kompositionen einzufügen, erscheinen in späteren Kunst-Gegenständen kombiniert: Dadaisten setzten absurde Objektkombinationen (Man Ray tat einen Hammer in eine Flasche) zusammen, Surrealisten erstrebten lockende oder schockierende Effekte mit seltsamen Kunst-Fetischen,

So spielte Hans Belimer mit Puppen-Gliedern, Salvador Dali legte Telephonhörer in Hummerschalen, die Schweizerin Meret Oppenheim nähte eine pelzbesetzte Tasse, und der Bildhauer Alberto Giacometti formte ein abstraktes, dorniges »unangenehmes Objekt zum Wegwerfen«.

Solcher Kult mit einer Objekt-Magie kommt auch in der Nachkriegskunst durchaus noch vor. Doch häufiger sind rationaler Jux mit Kunst und Wirklichkeit und die betonte Verwertung von Industrieprodukten geworden:

Oft werden Gegenstände aus der Objekt-Malerei in dreidimensionale Realität übersetzt -- der Brite Clive Barker imitierte den »Stuhl« van Goghs in verchromtem Stahl, der Haliener Ceroli baute Giorgio de Chiricos »Möbel im Tal« aus Kistenholz nach. Im »Nouveau réalisme«, zu dem die Assemblagen aus Autoteilen oder Photoapparaten des Franzosen Arman zählen, doch auch die »Fallenbilder«, die Spoerri aus Tischgeschirr und Frühstücksresten arrangiert, tritt die Konsumwelt ebenso unmittelbar in die Kunst ein wie in Amerikas Pop Art.

»Ich bin der Meinung«, hat der Pop-Vater Robert Rauschenberg bekundet, »daß ein Bild wirklicher ist, wenn es aus Teilen der wirklichen Welt gemacht ist.«

In Wahrheit verfehlen die in Pop-Kunstwerke eingearbeiteten Eimer, Schaufeln oder Cola-Flaschen den ihnen zugeschriebenen Effekt nur allzu oft: Sie fügen sich, wie die Papierschnipsel der Kubisten, als bloßer Werkstoff in den schönen Kunstzusammenhang.

Mit diesem Mechanismus hatte auch schon Duchamp, von den Pop-Leuten als Pionier verehrt, zu kämpfen gehabt. »Ich warf ihnen«, so beschwerte sich der Greis über seine Verehrer und Nachahmer, »den Flaschentrockner hin und das Urinoir ins Gesicht -- als eine Herausforderung. Und jetzt bewundern sie das als ästhetische Schönheit.«

Doch auch Duchamp selbst konnte sich den alten Gewohnheiten nicht ganz entziehen; im »Ringen um den Gegenstand, blieb er nur Punktsieger. Vier Jahre vor seinem Tod nämlich ließ er seine bekanntesten »Readymades« wie herkömmliche Skulpturen in Auflagen von je acht numerierten und signierten Stücken nachbilden.

Statt der von Sammlern und Museen widersinnigerweise eifersüchtig gehüteten Duchamp-,"Originale« sind nun in Brüssel Kopien aus dem Jahre 1964 ausgestellt.

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