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FERNSEHEN / Telemann NICHT IN DIE TÜTE

aus DER SPIEGEL 50/1960

Es begann mit einem Fernschreiben des »Tagesschau«-Leiters Reiche (Hamburg) an den »Tagesschau« -Filialleiter Mühlbauer (Köln). Darin war zu lesen, daß die »Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände« am 24. November einen Kongreß abhalten wolle und daß es geboten sei, diesem rhetorischen Ereignis nicht nur Chronisten-Sorgfalt, sondern auch, vermittels vorgefertigter Ansichtsfilmstreifen, Ausschmückung angedeihen zu lassen. Lehrt doch die Erfahrung, daß fesselnde Worte nicht immer mit fesselnden Zügen einhergehen.

Also fragte Mühlbauer beim Bundes-Arbeitgeberpräsidenten Paulssen an, worüber denn so geredet werden würde, und erfuhr: über Arbeitslohn und Arbeitszeit. Diese Stichworte vor dem geistigen Auge, fuhr ein WDR-Kamera-Team zu der günstig gelegenen Klöckner-Humboldt-Deutz AG in Köln und wies dem Pressechef eine Order vor, worin deutlich geschrieben stand, daß Voraufnahmen für eben nichts anderes als das Brotgebertreffen getätigt werden sollten. Dem Pressechef kam die Gelegenheit, seine Firma ins Elektronenlicht zu rücken, sehr zupaß, und er gab den WDR -Leuten gute Wünsche sowie einen Angestellten vom Lohnbüro mit auf den Weg.

Als zu guter Drehstunde die Arbeitnehmer nach regulärem Schichtwechsel zum regulären Lohnempfang schritten, befanden sich am Ort der Handlung auch der Vorsitzende und andere Mitglieder des Betriebsrats. Und damit nicht Neid oder Zwietracht Einzug hielten bei Klöckner in Köln-Kalk, bestimmten diese Räte, welche drei oder vier Glückspilze ihren Wochenlohn vor 30 Millionen Augen empfangen durften.

Der Kameramann Theo Rausch waltete seines Amtes, drehte ein paar Totalen, ein paar Nahaufnahmen - und als er sich zur herkömmlichen Großaufnahme anschickte, wurden einem der Erwählten gerade seine verdienten 180 Mark vorgeblättert. Die Kamera erfaßte sie mitsamt der Lohntüte.

Noch herrschten Frohmut und Verdienerstolz in Köln-Kalk.

Am Vorabend der Sendung jedoch wandelte die Belegschaftsbetreuer jählings Nachdenklichkeit an, - und sie kabelten der »Tagesschau«, die großgezeigte Lohntüte müsse herausgeschnitten werden. Der diensthabende Hamburger Redakteur willfahrte, ließ aber die geblätterten Geldscheine ungestutzt.

Und so kam es denn, daß in der »Tagesschau« vom 24. November, gerade als Oberarbeitgeber Paulssens Tonbandstimme wehklagte: »Ein solches Tempo (der Lohnsteigerung) kann nicht ohne Wirkung auf die Preise bleiben ...,« der oberwähnte Günstling Tele-Fortunas und seiner Betriebsräte die 180 Mark einstrich.

Das war die Vorgeschichte.

Die Geschichte begann schon am nämlichen Abend, als - nach der Sendung - fernsehsitzende Kalkerinnen ihren anvermählten Kalkern die Frage stellten: Wieso 180 Mark?

Mir sagst du immer, du bekommst nur 130 - wo ist der Rest?

Es herrschten nicht Frohmut noch Verdienerstolz mehr in Köln-Kalk.

Am anderen Morgen traten 1500 Angehörige des Betriebes 8 der Klöckner-Humboldt-Werke in einen zweieinhalbstündigen Streik, riefen:

»Wir lassen uns nicht mißbrauchen!«,

hatten Lust und Laune, zwecks Verabfolgung von Tätlichkeiten das WDR -Funkhaus zu stürmen.

»Die Szenen waren gestellt. Wir waren über die Absichten des Fernsehens nicht richtig informiert worden«, tönte es aus Betriebsratsmunde. Und: »180 Mark schafft im Betrieb nur einer, der mindestens 65 Stunden in der Woche gearbeitet hat.« Und: »Für diese Aufnahmen haben die Kameraleute die Aktentaschen unserer Kollegen gegen ihre eigenen Diplomaten - Aktentaschen vertauscht.« (Eine Stegreif-Behauptung, für welche Kameramann Theo Rausch schriftliche Abbitte erheischte und erhielt.)

Am späten Mittag fand auch der Vorstand die passenden Worte. Er distanzierte sich von der »Art der Darstellung« und versprach, daß so was nicht wieder vorkommen soll.

Das war die Geschichte.

Welche Lehre läßt sich daraus ziehen? - Schließlich war's doch ein historisches Geschehnis: der erste Fernseh-Streik. Und aus der Historie zu lernen, ist jedes Weltkindes vornehmste Pflicht.

Nun, es gibt keine Lehre - außer vielleicht der einen, daß sich der Klöckner-Humboldt-Betrieb Nummer 8 bei Gelegenheit einen anderen Betriebsrat einfallen lassen sollte. Es gibt nur die stolze Erkenntnis, daß in einem vergleichsweise unterentwickelten Fernsehland wie dem unseren ein funkelneues TV-Phänomen entsprossen ist.

Den »Fernseh-Hals«, den »Fernseh -Herzinfarkt«, die »Fernseh-Blähungen«, den »Fernseh-Suff« - dies alles gab es längst schon anderwärts.

Von einem Fernseh-Streik steht nichts in den Annalen.

Und noch eine Merkwürdigkeit sticht ins Auge: Da tobten Aufruhr und Empörung; da verringerte sich das Sozialprodukt um den Ertrag eines halben Arbeits-Vormittags; kurzum, da erregte unser Deutsches Fernsehen ausnahmsweise so viel kollektiven Zorn, daß seinetwegen Menschenmassen und nicht nur Kugelschreiber in Bewegung gerieten. Und wenn man's genau betrachtet, konnte es - ausnahmsweise - gar nichts dafür..

Merke: »Unschuld ist meist ein Glück und keine Tugend« (Anatole France).

telemann

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