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Nichts als Kunst

Von Matthias Matussek
aus DER SPIEGEL 17/1991

An diesem frühen Morgen sehen Goethe und Schiller aus wie Wesen von einem anderen Stern. Vor dem Nationaltheater in Weimar stehen sie unter einer Plastikplane, wo sie auf ihre Restaurierung warten. Eine Baulampe strahlt innen und beleuchtet Schillers Nase und Goethes Lorbeer. Sie sehen aus wie E. T. unter seinem Sauerstoffzelt, in dieser rührseligen Sterbeszene. Ob die beiden Antworten haben? Was ist Kunst? Und was ist ihr Auftrag in diesen Tagen?

Die Kunstwelt, die sich ein paar hundert Meter weiter in der Weimar-Halle versammelt hat, weiß es nicht. Aber sie ärgert sich, weil sie dachte, sie würde hier aus ihrer Ratlosigkeit erlöst. Ein merkwürdiger, kleiner, drahtiger Belgier hatte sie eingeladen. Und nun sitzen die Galeristen und Kritiker schon seit zehn Stunden hier, und sie mampfen sich durch Berge mit Käsebrötchen und noch größere Berge von Bildern. Denn der Belgier zeigt Bilder.

Ihnen hängt die Kunst zum Halse raus. Sie wollen Namen, Programme, Fakten. Man will wissen, was in der nächsten Saison getragen wird, Mini oder heftig oder Video? Und da oben sitzt ihr wichtigster Mann und schwärmt. Und glüht. Und begeistert sich über nichts anderes als: Kunst.

Jan Hoet aus dem belgischen Gent. Kein Ausstellungsmacher, sondern ein Bekenner. Asketisches Gesicht, funkelnde Augen, ständig sprudelnd, ständig in Bewegung. So einer theoretisiert nicht über Kunst, er stirbt für sie. Er ist der Kopf der nächsten Documenta, der bedeutendsten Avantgarde-Olympiade der Welt, die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet. Die Documenta entscheidet über Trends, über Ruhm und Marktwert, entscheidet über Millionen.

Die Kunstkritiker und Galeristen im Parkett wollen die Aufstellung der Weltauswahl. Und Hoet schwärmt über das Trikot eines Läufers aus Nordkorea, von dem keiner weiß, ob der überhaupt die Zwischenläufe übersteht.

Keine programmatischen Erklärungen. Statt dessen? Dias! Fundstücke, von Hoets Team aus aller Welt zusammengetragen. Aufnahmen von Bildern und Räumen, von Installationen und Skulpturen, insgesamt 1300, angefangen von A wie Absalon, und um Mitternacht ist man erst beim Buchstaben C. Hoets Devise ist so einfach wie genial. Ihr wißt nicht mehr, was Kunst ist? Dann schaut doch einfach hin! Hoets Zumutung: Er verlangt die Strapaze des Mitmachens. Kunst als Clinch.

Früher hat er geboxt, im leichten Mittelgewicht, ein Linksausleger. Kein tödlicher Puncher, aber schnell, ein guter Techniker. Qualitäten, die er brauchen kann in der Kunstarena, denn für ihn hat, natürlich, die Kunst mit dem Boxen zu tun. Beide Disziplinen bewegen sich in einer eigenen Welt. Sie erfordern Ausdauer und Mut und Schonungslosigkeit, und der Ausgang ihrer Kämpfe ist offen.

Hoets Erfolge sind Zumutungen. Eine der schönsten fand in seiner Heimatstadt Gent statt. Für sein Kunstereignis »Chambres d'amis« ließ er Künstler die Salons in Bürgerhäusern umkrempeln. Der Ausstellungsparcours verlief durch Wohnzimmer. Kunst und Publikum als Wohngemeinschaft - voila, der Clinch als Kunst.

Beeindruckt, ach was, beseelt hat ihn die Documenta von 1972, die Szeemann ausgerichtet hatte: Da triumphierte Beuys, da veranstaltete Bazon Brock seine Schule des Sehens, da gab es die monumentalen Behauptungen Serras - Barrikadengeschichten der Moderne.

Mit Szeemann und den anderen Documenta-Machern hatte Hoet, nach einleitenden Klängen einer russischen Militärkapelle, den Abend eröffnet. Dort oben saßen sie, ein Politbüro der modernen Kunst, gewichtig und bedeutend, und Hoet viel zu klein, zu fahrig, zu zappelig daneben, und von unten sah diese Ahnengalerie aus wie Marx, Engels, Lenin und Adamo.

Was der Auftrag der Kunst in diesen Tagen sei, wußten auch die Matadore der vergangenen Documenten nicht zu sagen. Fest stand für sie nur, daß alte Fronten zusammengebrochen waren.

Die heroischen Zeiten sind längst vorbei. Vorbei auch der auftrumpfende politische Trotz, als die Welt, auch die Kunstwelt, noch an zwei ideologische Systeme angedockt war. Wie schön für die »Documenta«, als sie in DDR-Nachschlagewerken noch als »internationale Großveranstaltung des offiziellen imperialistischen Kunstbetriebs« bezeichnet wurde, die »eine führende Rolle bei der Errichtung der Vorherrschaft der abstrakten Kunst« spiele.

Jetzt, in Weimar, wo die imperialistische Vorherrschaft der abstrakten Kunst über den Sozialismus besiegelt ist und Kassel nicht mehr in einer anderen Welt liegt, sondern nur noch wenige Autostunden entfernt, haben vor allem die Künstler der ehemaligen DDR Probleme. Die Opposition gegen den sozialistischen Realismus war doch immerhin eine Position. Nun treiben sie, mit allen anderen, auf hoher See. Keine Kriterien mehr, kein sicheres Ufer, nur noch grenzenlose Horizonte, wie soll man da noch arbeiten können? »Es ist alles so beliebig geworden«, sagt einer.

Merkwürdig: Auch die West-Kritiker haben Heimweh nach dem ideologischen Zeitalter. Sie teilen die panische Angst vor der Unsicherheit. Sie brauchen Brücken, Begriffe, festen Boden unter den Füßen. Namen, wenigstens das! Doch Hoet segelt begeistert über ihre Einwände hinweg, er läßt seine Karussells durch die Nacht rotieren, ein Endlos-Band moderner Kunst, eine Internationale der Einbildungskraft, Indien, Kanada, Korea, Dänemark, nur einen Wimpernschlag entfernt - ebenso lange, wie der Projektor braucht, um das nächste Bild aufleuchten zu lassen.

Irgendwann springt einer auf und brüllt: »Das ist doch elitär. Wir müssen etwas gegen das massenhafte Sterben auf der Welt unternehmen.« Hoet geht ernst darauf ein. Und dann führt er weiter seine Trophäen vor. Kunst kann nichts am Sterben ändern. Aber sie kann gegen das massenhafte Sterben der Fantasie vorgehen. Und das ist schon viel.

Es ist schon viel, wie der New Yorker Künstler David Hammons gegen die Tristesse angeht, wenn er zerbrochene Schnapsflaschen-Böden zu rätselschönen Zeichen fügt - Vogelschwingen im Harlemer Getto. Oder Pedro Cabrita Reis mit seinen einfachen Holzskulpturen, weiß und schön wie portugiesische Häuser in der Sonne - kein Mensch kannte ihn bisher. Beide werden die Kasseler Documenta beliefern.

Wahrscheinlich ist es ein Glücksfall, daß die erste gesamtdeutsche Documenta nicht von deutschen Aktenordnern geleitet wird. Da ist Pier Luigi Tazzi in Hoets Team, ein rotlockiger Italiener, der mit seiner schwarzen Hornbrille aussieht wie ein Bastler von Höllenmaschinen. Da ist Bart DeBaere, ein schlaksiger, junger Kunstkatechet. Und Denys Zacharopoulos, ein Herr im tadellosen Maßanzug, verbindlich, schwer, eisig wie ein Porträt von Max Beckmann aus den zwanziger Jahren.

Alle sprechen nur gebrochen Deutsch, doch das von Hoet ist am schönsten gebrochen. Er wirbelt mit Artikeln und Präpositionen, er stürzt sich in unaussprechbare Substantive wie »Komplexität«, und manchmal weiß man nicht, worüber man sich mehr freuen soll: über das gezeigte Kunstwerk, oder über Hoets Kommentar und seine Freude über einen besonders schönen Fund aus dem Meer der deutschen Sprache.

Gegen vier Uhr morgens schickt er die hingerissenen und genervten, die beleidigten und beglückten Kunstmaniacs in ihre Hotelbetten. Und fünf Stunden später sitzt er wieder mit seinem Team auf dem Podium und vibriert. Und merkwürdig: Alle da unten sind wieder dabei. Und einen ganzen Tag lang sitzen sie und schauen und reden wie süchtig.

Am Abend werden die Kritiker für ihre Ausdauer belohnt. Jan Hoet verliest Namen. Arrivierte darunter wie Mario Merz und völlig Unbekannte. Viele von ihnen kommen aus Ländern, die auf der Landkarte der internationalen Kunstszene bisher fehlten. Rund 80 Namen verliest Hoet, und er übererfüllt damit den in den Zeitungsspalten herbeigejammerten Informationsbedarf. Sie wollten »offene Karten« - nun hat er ihnen mehr hingeknallt, als sie verarbeiten können.

Doch der Gestus, mit dem Hoet am Ende des Marathons seine Liste vorlegt, sagt: Eigentlich sind Namen doch unwichtig. Schaut euch an, was sie und andere machen. Er will keine Sieger präsentieren, keine Stars machen. Er will keine neuen Trends, keine neuen Theorien. Zuerst kommt das Machen, sagt er, dann die Idee. Er will Kunst zeigen.

Unter ihrer Plastikplane vor dem Nationaltheater stehen die beiden Säulenheiligen der deutschen Kultur und warten. Schiller, der Theoretiker der Ästhetik, und Goethe, der Mann der Anschauung. Obwohl Goethe in Wirklichkeit kleiner war an Wuchs, ist er auf dem Sockel einen Millimeter größer. Wahrscheinlich ist das nur gerecht in diesen Zeiten, wo Theorien unbrauchbar geworden sind.

Goethe war 26, als er an seinen Freund Lavater schrieb: »Auf der Woge der Welt - voll entschlossen: zu entdecken, gewinnen, streiten, scheitern, oder mich mit aller Ladung in die Luft zu sprengen.«

Hoet ist doppelt so alt. Aber so ähnlich würde er es wohl auch sagen.

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