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MARXISMUS KAPITAL Nie veröffentlicht

aus DER SPIEGEL 38/1967

»Diese Woche wird also die Scheiße fertig«, schrieb Karl Marx am 14. August 1867 aus London seinem Freund Friedrich Engels, und er meinte damit das Buch, das Engels später die »Bibel der Arbeiter« nannte: »Das Kapital«.

Am 14. September 1867 erschien der erste Band in einem Hamburger Verlag im Druck, aber noch heute, 100 Jahre später, kennt die Welt noch immer nicht das Gesamtmanuskript. Zwar feiert die Sowjet-Union das Jubiläum mit einer Briefmarke, aber die Sowjet-Wissenschaft hat noch immer nicht das Gesamtmanuskript der Arbeiter-Bibel herausgegeben.

Als Marx am 14. März 1883 starb, hinterließ er seinem Freund außer dem fertiggestellten ersten Band ein Gebirge von »Kapital«-Papieren. Engels formte daraus noch zwei Bände: 1885 den zweiten und 1894 den dritten Band.

Bis heute ist jedoch ungeklärt, was in diesen beiden Bänden echter Marx ist und was Zutat des Freundes.

Einer der besten Marx-Spezialisten, der Gründer des Marx-Engels-Instituts in Moskau und Herausgeber einer historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), David Rjasanow, schätzte das »Kapital«-Gesamtmanuskript auf »ungefähr zehn dicke Bände«. So jedenfalls berichtete er Georg Lukács in den dreißiger Jahren, und so erzählte Lukács, der heutige Senior marxistischer Philosophie, es deutschen Freunden im vorigen Herbst. Lukács über das »Kapital«-Manuskript: »Es ist nie veröffentlicht worden.«

Rjasanow gelangte bei seiner Editions-Arbeit nicht bis zum »Kapital«-Manuskript. Ehe er es in Angriff nehmen konnte, ließ ihn Stalin umbringen. Auch die MEGA blieb ein Torso.

Vorher hatte freilich schon der orthodoxe SPD-Ideologe Karl Kautsky im »Kapital«-Massiv gegraben. Zwischen 1905 und 1910 förderte er vier Bände unter dem Titel »Theorien über den Mehrwert« zutage. In Moskau gab das Marx-Engels-Institut dann noch 1939 bis 1941 zwei weitere Bände aus Marxens ökonomischen Fragmenten heraus: »Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie«, auch »Rohentwurf des 'Kapital'« genannt.

1844 hatte der damals 26jährige und in Paris ansässige Marx den Aufsatz eines jungen Fabrikantensohns namens Friedrich Engels »Umrisse zur Kritik der Nationalökonomie« gelesen. Damals faßte er den Plan, »die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß« darzustellen.

Er wollte also die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft als »inevitablen«, unvermeidlichen Vorgang beschreiben, der, vorangetrieben durch ständig wachsende Ausbeutung der Proletarier und ständig wachsende Akkumulation des Kapitals, der kommunistischen Revolution und damit dem Umschlag in die »klassenlose Gesellschaft« entgegentreibe - am Ende ein »Reich der Freiheit« eröffnend, in dem der Mensch morgens jagen und abends kritisieren könne.

Rund 40 Jahre, freilich mit langen Unterbrechungen, arbeitete Marx an dem Manuskript, am fleißigsten in London, wohin er nach dem Scheitern der 48er Revolution mit Jenny, geborener »Baronesse de Westphalen«, und der wachsenden Familie gegangen war.

Unter trostlosen Umständen - »Seit acht bis zehn Tagen habe ich die family mit Brot und Kartoffeln durchgefüttert« -, zeitweilig in der Dean Street von Soho hausend, von Familien-Tragödien zermürbt, schmiedete er aus Exzerpten, die er im Britischen Museum aus Industrie-Berichten kopiert hatte, das Epos des leidenden, des »entmenschten« Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft.

In den Mittelpunkt dieser Satanade des Kapitals stellte er den »Mehrwert«. In ihm sah Marx die Antriebskraft der kapitalistischen Warenproduktion. Der Kapitalist kauft Rohstoffe, Produktionsmittel und Arbeitskräfte und produziert Waren, für die er beim Verkauf mehr erzielt, als er selbst ausgegeben hat.

Der Mehrwert entsteht also, weil der Arbeiter der »Ausbeutung« unterliegt: Er wird nur für einen Teil seines Arbeitstages bezahlt, seine »Mehrarbeit« eignet sich der private Unternehmer an. Der Arbeiter erhält nur gerade so viel, daß er weiterarbeiten und sich selbst »reproduzieren«, also am Leben erhalten kann.

Wird der Mehrwert in Kapital, und damit in neue Produktionsmittel, zurückverwandelt, so ergibt sich dessen »Akkumulation«. Auf der einen Seite entstehen »mehr ... oder größere Kapitalisten«, auf der anderen »mehr Lohnarbeiter«. Die Akkumulation bedeutet also eine »Vermehrung des Proletariats« - und dessen »Verelendung« oder »Pauperisierung«.

Mit der Lehre von dem aus der Ausbeutung entstehenden Mehrwert, und zumal mit der Lehre von der »inevitablen« Pauperisierung, vermittelte Marx dem Sozialismus, den vor ihm und neben ihm auch andere predigten, das Feuer der Empörung, das dazu beitrug, den Kommunismus zur revolutionären Weltbewegung zu machen. »Nahezu eine Milliarde Menschen leben heute«, stellte jüngst der Jesuit und Marx-Interpret Yves Calvez fest, »unter Regierungen, die sich auf die Lehre von Marx berufen.«

Gleichwohl haben die orthodoxen Marxisten von heute es schwer, die Theorie zu verteidigen, wonach der Kapitalist dem Arbeiter nur den Lebensunterhalt zahlen kann. Tatsächlich muß er ihm mehr zahlen - schon um Käufer für die produzierten Waren zu finden.

»Tot und begraben« nannte denn auch einer der klügsten Marx-Kritiker, der 1950 in den Vereinigten Staaten verstorbene Nationalökonom Joseph Schumpeter, Marxens Arbeitswert-Lehre.

Gleichwohl gab Schumpeter dem Erzvater des Kommunismus darin recht, daß »die kapitalistische Entwicklung die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft zerstören wird«.

Darin zumindest sind sich auch fast alle der neun zumeist marxistischen Gelehrten aus der Bundesrepublik, Frankreich, Belgien, Italien, England, der Tschechoslowakei und Jugoslawien einig, deren Ansichten über die Nachwirkungen von Marxens »Kapital« der Frankfurter Suhrkamp-Verlag soeben veröffentlicht*.

Freilich bestätigt eben dieses Buch, was einer seiner Autoren, der italienische Ökonom Rodolfo Banfi, so ausdrückt: Marx sei heute »eine Art Aktiengesellschaft«; die »sechs oder sieben 'philosophischen Marxismen'« der Gegenwart seien deren »Gesellschafterversammlung«, in der »jeder Aktionär die Mehrheit für sich« beanspruche.

Als »gemeinsamen Nenner« aller dieser marxistischen Philosophien entdeckte Banfi freilich dann die »Kritik der Gegenwart« als der »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« - und die »Erwartung der realen Befreiung«, das heißt der »vollen Herrschaft des Menschen über Gesellschaft und Natur«.

Sie betrachten - so auch Herbert Marcuse, Georg Lukács und Ernst Bloch - den Marx des »Kapital« nicht als »reinen«, also abstrakt-unhistorischen Ökonomen, sondern als Seher einer Zukunft, der im dritten Band des »Kapital« geschrieben hat:

»Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört ...«

* »Folgen einer Theorie. Essays über 'Das Kapital' von Karl Marx«. Edition Suhrkamp 226, Frankfurt; 208 Selten; 3 Mark.

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