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FORSCHUNG / SEXUALITÄT Nimmer müde

aus DER SPIEGEL 16/1968

Meine Frau und ich sind beide über 65 Jahre alt, und wir haben noch immer sehr gerne Geschlechtsverkehr. Bitte raten Sie uns, was sollen wir tun?«

»Ich bin 58. Meine Frau sagt, ich sei zu alt, um in sexueller Beziehung noch »so albern' zu sein.«

Die beiden Sex-Notrufe -- sie stammen aus der Schatulle eines Briefkasten-Onkels bei einer amerikanischen Tageszeitung -- stehen im Einleitungskapitel eines Lebenshilfe-Werkes, das der amerikanische Psychologe Isadore Rubin verfaßt hat und das jetzt in deutscher Übersetzung erschien. Sein Titel ist zugleich Programm: »Sex nach Sechzig"*.

Bundesweit und dringlich fordern Studenten und Schüler (hektographierter Handzettel in Berliner Gymnasien: »Liebende aller Schulen, vereinigt euch") Sexual-Freizügigkeit für pubertäre Minderheiten. Den Entrechteten der entgegengesetzten Altersgruppe, dem immer zahlreicher werdenden Volk der Pensionäre, will Rubin nun gleiches bescheren. Sein Kredo: »Das idyllische Bild des abgeklärten und ruhigen Alters« müsse zum Irrglauben erklärt werden.

Aufklärung -- darüber, daß auch bei Alt-Liebhabern Leidenschaften durchaus normal, daß einsame Witwen und Witwer ebenso wie gelangweilte Ehe-Jubilare zu Sex-Abenteuern zu ermuntern seien -- muß nach Meinung Ruhms schon in jungen Jahren einsetzen. Denn »in unserer ganzen Gesellschaft, unter jungen ebenso wie unter alten Menschen« herrsche, was in Wahrheit bisher noch den Sex der Rentner hemme: »das Klischee vom geschlechtslosen Alter«.

Junge Menschen, so erläuterte der US-Psychologe, erwarten als selbstverständliches Ereignis, daß ihre sexuellen Wünsche und Fähigkeiten mit vorschreitendem Alter aufhören. Solche Erwartungen aber nennen die Soziologen eine »sich selbst erfüllende Prophezeiung«. Angewandt auf das Sechziger-Problem:Da die sexuellen Funktionen weitgehend von der eigenen psychischen Einstellung abhängen, »trägt die Erwartung bei vielen Menschen dazu bei, daß die Prophezeiung sich bewahrheitet«. Die Folge solch massiven gesellschaftlichen Druckes ist eine Art »psychische Kastration« verbunden mit dem Gefühl, plötzlich alt geworden zu sein -- »das wahrscheinlich verheerendste Ereignis des ganzen Lebens« (Rubin).

Mehr noch: Wer mit 60 oder 65 immer noch ein Lustverlangen spürt, fühle sich schuldig und beschämt, er hält sich für anomal, besessen von überstarkem Sexualtrieb. Der allgemeine Sprachgebrauch stützt solche

* Isadore Ruhm: Sex nach Sechzig« -- Eine Richtigstellung. Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg: 304 Selten; 22 Mark.

Klischee-Vorstellungen: Die »Virilität« junger Männer wird zur »Geilheit« der Pensionäre. Und das Schimpfwort »Wüstling« ist vornehmlich für das Greisenalter reserviert.

Am strengsten freilich ahndet die doppelte Moral den etwaigen Versuch einer alternden Witwe, ihren sexuellen Bedürfnissen nachzugeben. Den Frauen über 60, so Ruhm, verweigert die Gesellschaft die Sexualität »noch unnachgiebiger als den Männern«.

Manche von ihnen leiden unter erotischen Träumen und den damit einhergehenden Schuldgefühlen, andere suchen Erleichterung durch Masturbation -- eine Praktik, die früher als pervers galt und von Frauenärzten gelegentlich durch Amputation der Klitoris geahndet wurde.

Sexuelle Wünsche und Aktivitäten bei über Sechzigjährigen sind freilich nicht die Ausnahme, sondern (so Rubin) »die Regel für die meisten Paare unserer Gesellschaft«. Weder für Männer noch für Frauen gibt es ein Alter, in dem die physische Sexualpotenz plötzlich versiegt.

Rubin zitiert Untersuchungsresultate des amerikanischen Sex-Forschers Kinsey, wonach die männliche Sexualität von Jugend an gleichmäßig abnimmt: Aber es »ließ sich keine bestimmte Zeit feststellen, in der das Alter plötzlich an Bedeutung gewinnt«. Ältestes Forschungsobjekt Kinseys war ein 88jähriger, sexuell aktiver Mann, der mit einer 90jährigen verheiratet war.

Bei Frauen hingegen haben die Wissenschaftler keinerlei Anzeichen für ein schwächer werdendes Sex-Verlangen schon von Jugend an finden können. Auch Kinsey hatte keinen bestimmten Zeitpunkt für ein Schwinden weiblicher Sexualpotenz gesehen, im Gegenteil: »Im Lauf der Jahre verlieren die Frauen an Hemmungen.«

Ungetrübte Geschlechtsfreuden verheißt Psychologe Rubin allerdings nur solchen Paaren die nicht mehr an gewisse »Ammenmärchen« über den Alterungsprozeß glauben -- so zum Beispiel, daß die sexuellen Fähigkeiten der Frau nach dem Klimakterium abnähmen.

Wegen dieses Vorurteils, meint Rubin, könne das abrupte Ende der Menstruation zum »traumatischen Ereignis« werden, obwohl es, wie die Mediziner versichern, für diese Annahme keinen physiologischen Grund gibt. Zwar erlahmt mit der Umstellung die Hormonausschüttung der Eierstöcke, doch produzieren die Nebennieren weiterhin Sexualhormone.

Männer, so erörtert Rubin weiter, würden andererseits von der -- ebenso unsinnigen -- Befürchtung gepeinigt, wegen sexueller Exzesse in jüngeren Jahren vorzeitig zu altern oder impotent zu werden. »Im Samenerguß verlieren wir Lebenskraft«, so hatte schon der römische Arzt Galen dräuend verkündet -- eine Mär die sich bis in manche Arztpraxen des 20. Jahrhunderts erhalten hat.

In Wahrheit fand etwa die Kinsey-Gruppe, daß die sexuell aktivsten Alt-Liebhaber auch in ihrer Jugend zu den fleißigsten gehört hatten. In solch nimmermüdem Training sieht denn auch Geschlechtsaufklärer Ruhm den Schlüssel zu erfolgreichem Altern: Die Beibehaltung eines aktiven Geschlechtslebens, meint er, sei »ein wichtiger Bestandteil der Strategie des erfolgreichen Lebens im Alter«.

Solcher Rat wird freilich denen kaum helfen, die nach tabugeladener Erziehung den Sexualtrieb eher als minderwertig und bedrohlich ansehen. Sie werden, wie der amerikanische Psychiater Walter R. Stokes formulierte, »das nahende Alter unbewußt als Entschuldigung begrüßen, um eine Funktion aufzugeben, die sie seit ihrer Kindheit geängstigt hat«.

So Deutschlands Denker Arthur Schopenhauer, der dem Alter dafür dankbar war, daß es ihn von einem »tyrannischen Ungeheuer« erlöste: dem Geschlechtstrieb.

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