»Normalos kommen nicht vor«
SPIEGEL: Alle bejubeln den Erfolg der Unterhaltung, der neuen deutschen Leichtigkeit auf der Leinwand. Liegt da ein ernster Film wie »Das Leben ist eine Baustelle« nicht ziemlich neben dem Trend?
BECKER: Nein, ich glaube, viele Leute haben langsam genug von flacher Unterhaltung. Ich jedenfalls will mich nicht darauf einlassen, daß ein Film nicht mehr als eine 90minütige Achterbahnfahrt sein soll.
SPIEGEL: Wenn nicht Achterbahn, was dann: Film als Erziehungsanstalt?
BECKER: Das bestimmt nicht, aber ich vermisse Filme, die unseren eigenen Erfahrungen Rechnung tragen. Die Mehrheit der Leute, die in deutsche Filme gehen, die Normalos, kommen auf der Leinwand gar nicht mehr vor. Statt dessen tummeln sich dort Rundfunkmoderatoren oder Werbefuzzis, all die 30jährigen Hip-Berufler in albernen Identitätskrisen, die in Wirklichkeit wenige Prozent aller Deutschen ausmachen. Das ergibt eine extreme Schieflage, eine krasse Verschiebung in der Darstellung von Realität.
SPIEGEL: Vielleicht stimmt es, daß Normalos sich selbst auf der Leinwand gar nicht sehen wollen.
BECKER: Ach, es gibt doch Hunderte von Filmen, die das Gegenteil beweisen, etwa aus der amerikanischen Independent-Szene, oder ein australischer Film wie »Muriel''s Wedding«, aber auch aus Großbritannien, die spannenden Arbeiten von Mike Leigh, teils auch von Ken Loach oder Stephen Frears.
SPIEGEL: Leigh führt am Ende seines jüngsten Familiendramas »Secrets & Lies« die diversen Geschichten zusammen. In Ihrem Film bleiben so gut wie alle Fragen offen. Wollen Sie Ihre Zuschauer frustrieren?
BECKER: Nein, mein Film hat einfach eine ungewohnte Dramaturgie - nicht die Hollywoods, sondern die des Lebens. Wann werden im Alltag schon alle Fragen geklärt? Aids etwa kommt im Film so vor, wie es den meisten in der Wirklichkeit begegnet: Die Leute haben Angst davor, aber wenn sie geil sind und miteinander schlafen wollen, verdrängen sie das Gummi. Und am Tag danach haben sie ein schlechtes Gewissen. Die Figuren im Film erleben, was wir alle kennen, daß einem die verschiedensten Dinge gleichzeitig zustoßen - die Liebe, jemand stirbt, man hat kalte Füße, die Angst vor Aids, der Job ist futsch, und man hat auch noch Ärger mit der neuen Freundin.
SPIEGEL: Manchmal geschieht derart viel gleichzeitig, daß einen die Ahnung beschleicht, Sie hätten Ihr Drehbuch nicht ganz im Griff gehabt.
BECKER: Die Arbeit war lang, und wenn wir noch länger am Drehbuch gearbeitet hätten, wäre ich langsam vor die Hunde gegangen. Dann hätte ich irgendwann ein perfektes Buch gehabt, aber nicht mehr die geringste Lust, es zu verfilmen. Jetzt habe ich ein nicht ganz perfektes Buch, aber einen guten Film. Ist doch auch was.
SPIEGEL: Warum sind Happy-Ends in Becker-Filmen ausgeschlossen?
BECKER: Orson Welles hat gesagt: »Ein Happy-End ist eine Geschichte, die nicht richtig zu Ende gedacht ist.« Das kann ich nur unterstreichen. Außerdem: Wenn ich ein Happy-End drangeklatscht hätte, wo wäre der Stoff für Teil II: »Die Baustelle schlägt zurück?«
* Als Schlachthofleiter in »Das Leben ist eine Baustelle«,mit Ricky Tomlinson.