KNOCHENBRÜCHE Not mit Nägeln
In bundesdeutschen Krankenhäusern wird zu viel gehämmert. Jahr für Jahr werden einige Tausend Menschen zu Krüppeln - weil ihre gebrochenen Knochen voreilig genagelt wurden.
Die meisten in westdeutsche Kliniken eingelieferten Unfall-Patienten haben Knochenbrüche erlitten, die bei sachgemäßer ärztlicher Behandlung ohne Komplikationen geheilt werden könnten. Aber bei vielen dieser Patienten treten - noch während des Klinikaufenthalts oder auch Wochen danach - schwere Schäden auf, die zum Teil irreparabel sind.
Der Knochen bleibt häufig an der Bruchstelle, etwa im Oberarm oder im Unterschenkel, weich und biegsam - der Patient kann Arm oder Bein nicht mehr belasten. Oft werden die der Bruchstelle benachbarten Gelenke steif - der Patient kann Arm oder Bein nicht mehr abknicken. Manchmal sind eitrige Knochenentzündungen die Folge
- Komplikationen, die zur Amputation
ganzer Gliedmaßen oder sogar zum Tode führen können.
Die genaue Zahl derartiger Fehlergebnisse ärztlicher Hilfeleistung ist - getreu der Gepflogenheit deutscher Mediziner, über Mißerfolge nur spärlich zu berichten - auch in den Fachzeitschriften nicht verzeichnet. Über die Ursachen der unnötigen Unfallfolgen aber herrscht nach Ansicht prominenter Chirurgen längst kein Zweifel mehr:
- Unfallärzte bevorzugen bei Knochenbrüchen operative Eingriffe (Verbindung der Bruchenden mit Stahlnägeln, Schrauben oder Drahtschlingen)
- auch dann, wenn nach den Regeln
ärztlicher Kunst die herkömmliche Heilmethode (Schiene und Gipsverband) angezeigt wäre.
- Deutsche Chirurgen sind oft für die speziellen Anforderungen der Unfallchirurgie nicht hinreichend geschult.
Diese Feststellung ist auch die Quintessenz eines Vortrages, den der Wiener Unfallchirurg Professor Dr. Lorenz Böhler am Freitag dieser Woche in München auf dem Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie halten wird. Böhler, der als »Vater der modernen Unfallchirurgie« gilt und in Österreich ein vorbildliches Netz von Unfallkrankenhäusern und -stationen aufgebaut hat, wiederholt in seinem Referat einen Vorwurf, der auf den Münchner Chirurgenkongressen schon mehrmals erhoben worden ist.
- Professor Dr. Heinrich Bürkle de la Camp, prominentester westdeutscher Unfallchirurg, 1958: »Wir sollten die operative Knochenbruchbehandlung, nicht als Mittel der ersten Wahl empfehlen... sondern ... nur in wirklich ausgewählten Fällen.«
- Bürkle de la Camp 1960: »Die ohne ausreichende Anzeigestellung oder gar falsch ausgeführte operative Knochenbruchbehandlung hat schlimme und schlimmste Folgen.«
- Böhler bezeichnete 1960 die operative Knochenbruchbehandlung als »gefährlichste Methode«, wenn sie »zu häufig, das ist ohne entsprechende
Indikation, und technisch nicht einwandfrei angewendet wird...«
- Bürkle de la Camp 1961: »Wir haben aber... eine so große Zahl von Mißerfolgen auf dem Gebiet der operativen Knochenbruchbehandlung... gesehen, daß ich nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet bin, darüber zu sprechen.«
Schon 1958 hatte Bürkle de la Camp, damals Chefarzt an der Chirurgischen Klinik der Bochumer Krankenanstalten »Bergmannsheil«, in München berichtet, in den sieben Jahren zuvor seien in seiner Klinik 213 Kranke eingewiesen worden, die an den Folgen mißlungener Knochenbruchoperationen litten. Mehr als doppelt so viele waren zudem ambulant beraten oder untersucht worden.
»Die Zahl ist für eine einzige Klinik ungeheuerlich groß«, erklärte der Unfallchirurg, »und ich bin überzeugt, daß andere Kliniken ... ebenfalls derart bedenkliche Zahlen nachzuweisen haben.«
Drei Jahre später berichtete der Bochumer Mediziner noch Ärgeres. Die Zahl der mißratenen operativen Knochenbruchbehandlungen, die er allein in seiner Klinik »durch Überweisungen, Untersuchungen
und Begutachtungen zu sehen« bekommen hatte, war alarmierend angestiegen: auf 593 Fälle in den Jahren 1958 bis 1960.
Dabei handelte es sich um
- 67 Fehlstellungen: die Bruchstücke des Knochens waren schief zusammengewachsen;
- 287 verzögerte Heilungen und sogenannte
Pseudarthrosen: der gebrochene Knochen war an der Bruchstelle nicht wieder fest geworden;
- 239 Knocheneiterungen.
Die rasch ansteigende Zahl von Operationsschäden spiegelte die zunehmende Beliebtheit einer Behandlungsweise wider, die auch nach Meinung Bürkle de la Camps und Böhlers eine bedeutsame Bereicherung der Unfallchirurgie ist - wenn sie kunstgerecht angewendet wird: die »Marknagelung nach Küntscher«.
Professor Dr. Gerhard Küntscher, Chefarzt am Hafenkrankenhaus Hamburg, löste 1939 in Kiel ein Problem der Knochenchirurgie, an dem sich zahlreiche Mediziner ohne Erfolg versucht hatten: Er ersann ein Verfahren, bei dem die Teile eines gebrochenen Knochens so fest aneinandergeheftet werden, daß beispielsweise Patienten mit komplizierten Oberschenkelbrüchen schon nach wenigen Tagen umherlaufen können.
Mehrere Wochen hatten solche Patienten im Krankenhausbett zubringen müssen, solange die Chirurgen Knochenbrüche ausschließlich mit den klassischen Hilfsmitteln - Schiene und Gipsverband - kurieren konnten. Fast immer bedurfte es hinterher eines langwierigen Trainings, um die für lange Zeit stillgelegten Muskeln wieder funktionstüchtig zu machen.
Mehrfach unternahmen die Ärzte den Versuch, an den Bruchstellen Nägel, Schrauben, Metallschienen oder Drahtschlingen einzuführen, um damit den verletzten Gliedmaßen Halt zu geben. Aber derartige Verfahren haben den Nachteil, daß durch den operativen Eingriff an der Bruchstelle die Bildung neuen Knochengewebes behindert wird.
Küntscher hingegen entwickelte speziell geformte »Marknägel« aus rostfreiem Stahl, die er nicht an der Bruchstelle, sondern vom Ende des gebrochenen Knochens her in die Markhöhle einhämmerte und einige Monate später wieder aus dem Knochen herausziehen konnte.
Freilich: Schon 1950 sah der Erfinder Anlaß, seine Kollegen zu sachgemäßer Anwendung des simpel anmutenden Verfahrens zu ermahnen. Die Marknagelung, schrieb Küntscher in einem dieser Methode gewidmeten Lehrbuch, sei »eine äußerst schwierige Kunst«. Und: »Es war sicher ein großer Fehler des Verfassers, in den ersten Veröffentlichungen das Verfahren als zu leicht ausführbar darzustellen.«
Er beklagte »eine überstürzt rasche Ausbreitung innerhalb Deutschlands und eines Teiles des Auslandes« und warnte: »Nur bei vollständigem Instrumentarium und nur in erfahrenen Händen kann die Marknagelung einen Fortschritt bedeuten.« Denn sie erfordere ein »in der Chirurgie bisher nie gekanntes Maß an Planung und Sorgfalt der Ausführung«.
Marknagelungen sind indes kaum schwieriger auszuführen als etwa Operationen am lebenden Herzen, wie sie seit Jahren an vielen deutschen Kliniken erfolgreich ausgeführt werden. Zwischen Herzoperationen und der Behandlung von Knochenbrüchen besteht jedoch ein medizin-soziologischer Unterschied, den Küntscher mit der Bemerkung andeutete: »Herzchirurgie, das macht Eindruck.«
Obgleich rund 50 Prozent der Betten in den chirurgischen Kliniken heute mit Unfallopfern belegt sind, gibt es unter den Direktoren der westdeutschen chirurgischen Universitätskliniken keinen einzigen Unfallchirurgen. Im Gegensatz zu Herzspezialisten, die gute Aussichten
haben. Hochschullehrstühle zu erklimmen, arbeiten selbst international angesehene Unfallchirurgen, wie Bürkle de la Camp und Küntscher, abseits der Universitäten.
»Die Unfallchirurgie«, klagte Küntscher, »wird an unseren Universitäten stiefmütterlich behandelt.« Bürkle de la Camp sekundierte: »Auf den Hochschulen wird die Unfallchirurgie und besonders die operative Knochenbruchchirurgie meistens vom jüngsten Dozenten gelehrt.« Unfallmediziner Böhler konstatierte: »Die Ursachen der Mißerfolge in der Unfallchirurgie sind Mängel in der ... chirurgischen Ausbildung.«
So sehr es vielen deutschen Chirurgen an der Qualifikation für Knochenbruchoperationen mangelt, so wenig gebricht es ihnen an Mut, sich in der ungelernten Kunst zu versuchen. Küntscher: »Mir sind Fälle bekannt, wo Chirurgen die Marknagelung versuchten, nachdem sie durch Zufall einen einzigen Marknagel in die Hand bekommen hatten.« Mißbilligend berichtete Bürkle de la Camp, daß in manchen Kliniken mehr als 30 Prozent aller Knochenbrüche genagelt würden, obwohl es sich dabei nur zum geringen Teil um komplizierte Brüche - etwa Oberschenkel- oder Schenkelhalsfrakturen - handelt, bei denen Marknagelungen wirklich angezeigt sind.
Um ihre Nagelfreudigkeit zu begründen, verweisen die Chirurgen auf den wirtschaftlichen Nutzen der Methode: Der Aufenthalt im Krankenhaus werde abgekürzt, und der Patient sei schon nach kurzer Zeit wieder arbeitsfähig.
Aber das Komplikationsrisiko der Nagelarbeit ist - auch bei minder komplizierten Brüchen - so groß, daß die Wirtschaftlichkeitsrechnung unversehens ins Gegenteil umschlagen kann. Bürkle de la Camp rechnete vor:
Wenn ein 30jähriger Hauer (verheiratet, zwei Kinder) nach einem Unterschenkelbruch mit Schiene und Gipsverband behandelt wird, sind dafür rund 3000 Mark an Pflegekosten, Nebenkosten und Krankengeld aufzuwenden.
Kommt es jedoch an dem verletzten Bein des Hauers - nach einer Marknagelung - zu Komplikationen (Pseudarthrose und Gelenkversteifungen), steigen die Kosten auf ein Vielfaches: Der Bergmann bleibt monatelang arbeitsunfähig und büßt für den Rest seines Lebens einen Teil seiner Erwerbsfähigkeit ein. Gesamtkosten: rund 75 000 Mark. Erleidet der genagelte Kumpel nach der Operation eine Knocheneiterung, die zur Oberschenkelamputation führt, kann sich der aufgewendete Betrag sogar auf über 150 000 Mark erhöhen.
Bürkle de la Camp 1958: »Übertragen wir diese Zahlen auf einen Teil der bei uns beobachteten... Marknagelbehandlungsfolgen, so gehen die Kosten und Lasten an 50 bis 70 Millionen Mark.«
Drei Jahre darauf: »Wir haben jetzt in drei Jahren 2,7mal so viele Fehlergebnisse (wie zuvor in sieben Jahren) beobachten müssen. Ich möchte die Höhe der notwendigen Entschädigungen nicht aussprechen, möchte auch nicht die große Zahl der erforderlich gewordenen Amputationen nennen.«
Auch der Wiener Unfall-Nestor Böhler ("Bei richtiger Indikation und einwandfreier Durchführung hat die Marknagelung eine aussichtsreiche Zukunft") vermied angesichts dieser erschrekkenden Mißerfolgszahlen schon seit 1960,
Unterschenkelbrüche zu nageln, die in der Regel mit herkömmlichen Mitteln leicht zu heilen sind.
»Wir haben seither«, resümierte er, »keine Knocheneiterungen und nur 0,19 Prozent Pseudarthrosen.« Am Freitag dieser Woche will Böhler den in München versammelten Chirurgen darüber hinaus empfehlen, künftig auch bei Oberarmbrüchen auf das Nageln zu verzichten.
Der erfahrene Unfallchirurg ist über den folgenschweren Nageleifer unkundiger Kollegen so ergrimmt, daß er den ursprünglich vorgesehenen Titel seines Vortrags änderte. Laut vorläufigem Tagungsprogramm wollte Böhler zum Thema »Konservative Behandlung der Oberarmschaftbrüche« sprechen. Der neue Titel: »Gegen die operative Behandlung von frischen Oberarmschaftbrüchen.«
Unfallchirurg Böhler
Zu häufig die gefährlichste Methode?