BRITTEN-PREMIERE Oberon singt Alt
Im weißen Smoking mit schwarz seidenem Kavalierstaschentuch verbeugte sich der Komponist Benjamin Britten auf der kleinen Festspielbühne des ostenglischen Fischer- und Küstenstädtchens Aldeburgh. Das elegante Publikum zu seinen Füßen, zum größten Teil die Notabilität seiner engeren Heimat, klatschte begeistert seiner zehnten Oper, »Ein Sommernachtstraum«, Beifall, deren Gala-Uraufführung - Eintrittspreis umgerechnet 61,75 Mark - Britten eben mit eigener Hand dirigiert hatte.
Ein Werk des englischen Dramatikers Shakespeare zu vertonen, war sogar für Britten eine »erschreckende Herausforderung« ("Observer") gewesen. Obwohl Britten seit der Uraufführung seiner Fischeroper »Peter Grimes« vor fünfzehn Jahren zur Prominenz der modernen Musik zählt - es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo in der Welt ein Bühnenwerk, eine Symphonie, eine Kantate oder ein Lied des 46jährigen Künstlers aufgeführt werden -, war Britten bisher, von einem Sonett abgesehen, davor zurückgeschreckt, Shakespeare anzutasten.
Ohnehin waren von allen Versuchen, Shakespeare-Musiken zu schreiben, auf der Opernbühne nur drei erfolgreich geblieben: »Othello« und »Falstaff« des italienischen Komponisten Giuseppe Verdi und »Die lustigen Weiber von Windsor« des Deutschen Otto Nicolai.
Als Grund, warum er sich jetzt dennoch an Shakespeare gewagt habe, nannte Britten: Im vorigen Jahr sei beschlossen worden, er solle für die musikalischen Festspiele in Aldeburgh, die 1960 zum dreizehnten Male stattfinden, eine Oper komponieren. »Es war nicht genug Zeit, ein (neues) Libretto zu verfassen«, erklärte Britten. Deshalb hätten er und sein Freund, der Tenor Peter Pears, den »Sommernachtstraum« vorgenommen und durch Streichungen, denen etwa die Hälfte des Textes zum Opfer fiel, schnell ein geeignetes Libretto hergestellt. Einer seiner Mitarbeiter in Aldeburgh, Wilfred Stiff, enthüllte freilich: »Britten hat seit vielen Jahren die Vertonung des 'Sommernachtstraums' geplant. Was ihn daran reizte, war Shakespeares Poesie.«
Rigorose Streichungen waren allerdings unumgänglich notwendig gewesen. Benjamin Britten: »Sonst hätten wir eine Oper so lang wie der 'Ring' gemacht.« Den Streichungen fiel unter anderem Shakespeares Anfangsszene im Palast des Herzogs von Athen zum Opfer - eine Szenerie, in der Shakespeare seinen »Sommernachtstraum« nicht nur beginnen, sondern auch enden ließ. Handlung und dichterischer Kern, die Verwebung der drei Welten von Elfen, Hofleuten und Rüpeln, blieben jedoch gewahrt.
Mit gewohnter Pünktlichkeit lieferte Britten seine Partitur ab. Er hatte in der Vergangenheit öfter auf Bestellung gearbeitet, zum Beispiel viel Filmmusik geschrieben und kurz nach Kriegsbeginn 1940 sogar auf Wunsch der englischen Regierung, die das deutschland freundliche Japan zu besänftigen trachtete, und übrigens in Idealkonkurrenz mit Richard Strauß, zur Feier des zweitausendsechshundert Jahre bestehenden Kaiserthrons eine »Sinfonia da Requiem« für den Tenno verfaßt - sie wurde freilich von Tokio empört als »christlich« und daher als »eine ausgetüftelte Beleidigung« zurückgewiesen.
Sieben Monate nachdem er zum erstenmal den Rotstift an Shakespeares »Sommernachtstraum«-Text gelegt hatte, schrieb Britten die letzte Note nieder. An der rechtzeitigen Fertigstellung war ihm darum besonders gelegen, weil mit der Oper die Jubilee Hall in Aldeburgh eröffnet werden sollte, die für die Festspiele dieses Jahres umgebaut worden war.
Im Küstenstädtchen Aldeburgh, von dem aus Britten vor einiger Zeit besuchsweise quer über die Nordsee rheinaufwärts nach Bonn fuhr, hatte sich der Komponist nach seinen Wanderjahren niedergelassen, sich eine Villa und einen Mercedes gekauft und die Festspiele eingerichtet, die bis heute vornehmlich von seiner Person leben. In Aldeburgh wirken, im Gegensatz zu anderen Veranstaltungen dieser Art, international bekannte Künstler vor fast ausschließlich lokalem Publikum:
Die kleine Halle war in den letzten zwölf Monaten auf Brittens Betreiben mit Hilfe von Hunderten von Gönnern, zu denen der deutsche Botschafter Hans -Heinrich von Herwarth und Prinz Ludwig von Hessen zählten, so ausgebaut worden, daß sie nun immerhin 316 Zuschauern Raum bot.
Sobald das bei allen englischen Aufführungen obligate »God Save The Queen« verklungen war, wurde das Premierenpublikum gewahr, wie Britten seine Aufgabe angefaßt hatte. Anders als sein Vorläufer Mendelssohn, Bartholdy, der etwas Musik zum »Sommernachtstraum« komponiert hatte, verzichtete Britten auf eine Ouvertüre und ersetzte sie durch ein Vorspiel von nur 24 Takten.
Die Liebespaare stattete Britten mit einem einzigen Motiv aus, das er nach Bedarf umkehrte oder abwandelte. Ein Duett »Ich schwör es dir«, ein Quartett »Ich finde nun Lysandern« und das süß-sensuelle Schlußlied der Vereinten »Und nun zu Bett!« gehörten, so der begeisterte »Guardian« in Manchester, »zu der besten Musik der Oper...«
Die zweite, possenhafte Welt des »Sommernachtstraums«, die der sechs Rüpel, repräsentierte Britten mit neuen, oft auch alten Klangwitzen. Wenn sich etwa der Weber Zettel großsprecherisch entschließt, in der zur Feier der Herzogs-Hochzeit geplanten Aufführung von »Pyramnus und Thisbe« die Hauptrolle zu übernehmen, bläst die Posaune einen Tusch, als zöge ein Feldherr in die Schlacht, oder die Fagotte machen »I-ah«, wenn der Kobold Droll den Zettel in einen Esel verwandelt. Die beiden Flöten seufzen genüßlich, wenn der Weber Zettel sich von einem anderen Elfen den kürbisrunden Schädel kratzen läßt.
Die Theater-im-Theater-Aufführung von »Pyramus und Thisbe« im letzten Akt nutzte Britten als eine Gelegenheit zur Persiflage des Belcanto von Rossini, Bellini und anderen italienischen Komponisten des neunzehnten Jahrhunderts, die neuerdings beim Londoner Publikum wieder sehr populär geworden sind.
Für die dritte Welt, die der Elfen, hatte sich Britten überirdische Effekte ausgedacht. Droll zwar, der flinke Diener des Elfenkönigs Oberon, war eine bloße Sprech- und Tanzrolle - er wurde von dem fünfzehnjährigen Sohn des Choreographen Léonide Massine gespielt. Den Part der Elfen sangen sechs Knaben; eine Celesta (Stahlplattenklavier) begleitete mit ihrem Geklingel Oberons Zauberkünste, und für den Elfenkönig hatte sich Britten nicht eine übliche Stimmlage - Tenor, Bariton oder Baß - ausgesucht,
sondern einen Alt (Kontratenor):
eine Stimmlage, die für Falsett und Kastratenstimmen von englischen und italienischen Komponisten des 16. bis 18. Jahrhunderts oft verwendet worden ist - in der Gegenwart hat sich Carl Orff an einer Stelle seiner »Carmina Burana« des Männeralts (Falsett) bedient.
Alfred Deller, ein englischer Spezialist dieses Fachs, mit seinem »Deller Consort« von sechs Stimmen auch in deutschen Konzertsälen und aus Rundfunksendungen bekannt, sang als Oberon bis zum dreigestrichenen d herauf, eine Leistung, von der kein Tenor auch nur träumen könnte.
Der Mehrzahl der Kritiker erschien dieser Einfall Brittens allerdings wenig angemessen. Die unnatürlich hohe Stimme paßte ihrer Ansicht nach nicht recht zu der Rolle Oberons, der, wie die Elfen sangen, über seiner Gemahlin Titania Trotz »vor wildem Grimme schnaubt«. Deller: »Britten hat sehr lange über dies Problem nachgedacht. Die Rolle hat er von Anfang an ausdrücklich für mich geschrieben.«
Überhaupt war die Meinung der Kritik geteilt. Die »Times« meinte enthusiastisch: »Keine Erwartungen wurden enttäuscht, auch die höchsten nicht.« Der »Observer« hingegen bezeichnete Brittens musikalische Einfälle als »seltsam sporadisch« und nannte die Oper schlechthin mißlungen.
»Der größte englische Komponist seit Shakespeares Tagen«, so jubelte wiederum der »Daily Express« - sehr viel bedeutende Komponisten hat es allerdings in England ohnehin nicht gegeben -, »trifft sich hier gleichberechtigt mit unserem nationalen Bühnengenie. Brittens Musik bereichert das unsterbliche Stück um eine neue Dimension des Entzückens.«
Die »Daily Mail« hingegen meinte zurückhaltend, wenn man die Oper nur einmal gehört habe, könne man nicht recht entscheiden, »ob irgend jemand viel zu dem Stück, so wie Shakespeare es geschrieben hat, hinzufügen kann«. Der »News Chronicle« monierte energisch: »Shakespeare ist kein Opern -Librettist.«
Britten darf sich damit trösten, daß die Intendanzen der großen Opern Europas die Vorbehalte, die von englischen Kritikern angemeldet wurden, offenbar nicht teilen. Die Hamburger Oper erwarb bereits zwei Tage vor der Uraufführung die Rechte. Die Scala in Mailand meldete ihr Interesse an. Londons Covent Garden erklärte, es hoffe, die Oper 1961 aufzuführen. Aus Schweden reiste der Direktor der Göteborger Oper herbei. Braunschweig, Düsseldorf und Mannheim, Antwerpen, Stockholm und Zürich begannen Verhandlungen. Aus Holland kam kein Angebot: Die »English Opera Group«, die in Aldeburgh Brittens »Sommernachtstraum« aufführte, fährt ohnehin sofort nach dem Ende der Saison zu einem Gastspiel in die Niederlande.
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