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Odysseus in Bamberg

aus DER SPIEGEL 13/1976

Bamberg, ein Jahrtausend alt, ein Stück deutscher Provinz wie aus dem Bilderbuch. Aus den engen Straßen und Gassen fällt der Blick überall auf Kirchtürme, in alten Mühlbächen rauscht das Wasser unter schiefen mittelalterlichen Häusern durch, und oben auf einem Berg steht eine Burg. Alles sehr malerisch, wenn man will und die vielen Nullachtfünfzehn-Neubauten nicht sieht, die sich grotesk ins Stadtbild mischen. In den Gasthöfen hängen Hirschgeweihe, die Atmosphäre ist familiär, und im Bahnhof, um den Kiosk mit internationaler Pornopresse, treffen sich gern die Jungen dieses von Klerus und CSU regierten Nests in Oberfranken.

Auf einer Anhöhe unterhalb von Residenz und Dom wohnt in einem älteren Zweifamilienhaus mit Blick über rote Ziegeldächer der zur Zeit prominenteste Bürger Bambergs, der Schriftsteller und James-Joyce-Übersetzer Hans Wollschläger, den man in Bamberg freilich kaum kennt. Die meisten Bamberger wären sicher auch von dem, was er da oben in seiner Stube voller Bücher Tag und Nacht so produziert, nicht sonderlich begeistert, wahrscheinlich genausowenig, wie es einst die Dubliner von den abgründigen Werken ihres ungeratenen Genies Joyce waren.

Der einundvierzigjährige Wollschläger, ein musik- und sprachbesessener Selfmadegelehrter, jungenhaft sensibel und fanatisch, dem zwischen Kirchengeschichte und Medizin nur wenig fremd und heilig ist, hat in den vergangenen sieben Jahren die meiste Zeit nichts anderes getan, als Joyce übersetzt. Er hat seinen »Ulysses« neu übertragen, dieses bizarre und unausschöpfliche Jahrhundertwerk, das (abgesehen von Joyces letztem und im Grunde unübersetzbarem Buch »Finnegans Wake") als der »schwerstübersetzbare Roman der Weltliteratur« gilt und deutschen Lesern bislang nur in einer ziemlich ungenauen Eindeutschung zugänglich war. Fachleute und Kritiker finden Wollschlägers neuen deutschen »Ulysses« so glanzvoll gelungen, daß sie ihn als das literarische Ereignis der Saison feiern*.

Ihm selber ist gar nicht so zum Feiern zumute, die Arbeit am »Ulysses« hat ihm, sagt er, das Äußerste an Geduld und Kraft abverlangt, und jetzt verfolgen ihn Alpträume und Ängste, trotz allem noch Fehler gemacht zu haben. Bei der millionenfach facettierten Sprache des »Ulysses« und seiner komplizierten Wortartistik war das freilich unvermeidlich, und vieles übersteigt sowieso die Möglichkeiten einer sich möglichst ans Original haltenden Übersetzung.

Joyce war ein Genie der Sprache, er konnte über sie verfügen wie kein anderer Schriftsteller. Als ein guter Prosa-Schriftsteller gilt, wer mindestens mit einem Wortschatz von 3000 umgehen kann -- im »Ulysses« wurden 29 899 verschiedene Wörter gezählt (und 131 Themen).

Was Joyce mit diesem ungeheuren Wortschatz macht, in dem vom kindlichen Lallen bis zur hochdifferenzierten Poesie und vom Shakespeare-Pathos

* James Joyce: »Ulysses«. Suhrkamp Verlag. Frankfurt; 1020 Seiten; 140 Mark.

bis zum Gossenjargon jede noch so niedrige oder hohe Form sprachlichen Ausdrucks vorkommt, das ist die eigentliche Qualität des »Ulysses«, und das macht ihn zum Teil auch so schwierig und manchmal fast unlesbar.

Joyces literarische Achterbahn durch den Sprachdschungel wirbelt den Leser durch ganz Dublin und den müßiggängerischen und trübseligen Alltag eines Helden, der eine parodistische Jedermann-Kopie von Homers Odysseus ist. Er heißt Leopold Bloom, ist Annoncenakquisiteur, ein Hahnrei und Voyeur und hat eine Vorliebe für gebratene Innereien und seidene Damenunterwäsche.

Es gibt wohl in der Literatur keinen zweiten Helden, über den der Leser soviel erfährt wie über diesen trivialen Leopold Bloom, den »Mann der tausend Möglichkeiten«, der in Joyces Schreibe eine gigantische Existenz erhält, die durch Jahrhunderte menschlicher Imagination reicht und in der auch noch das Innerste und Unbewußteste zuäußerst gekehrt wird.

In Blooms Tages-Irrfahrt, sie findet am 16. Juni 1904 statt, spiegelt sich, schrieb Hermann Brach, der »Welt-Alltag der Epoche« wider. Und Robert Musil, der ungefähr zur gleichen Zeit, als in Paris der »Ulysses« erschien, im Jahre 1922, an seinem »Mann ohne Eigenschaften« zu schreiben begann, nannte die Joycesche Odyssee ein »Wiederanstimmen eines Urgesangs«.

Eine neue, spontane und gelöste Sprache und parodistische Variationen aller möglichen Stile machen den »Ulysses« zu dem, was er vor allem ist: ein Roman, betont Übersetzer Wollschläger unermüdlich, »dessen Held die Sprache ist, dessen Stoff die Sprache ist und in dessen Handlung das Eigenleben der Sprache selbst beschrieben wird«.

Die Wortmusik und Sprachmelodie des »Ulysses« ins Deutsche »rüberzubringen«, was der ersten Übersetzung im Jahr 1927 nicht gelungen war, hat Wollschläger besonders interessiert, er ist dafür auch besonders präpariert. Als er vor siebzehn Jahren aus dem Ruhrgebiet nach Bamberg zog ("weil es dort so viele Sonnentage gibt« und Sonne für ihn »unheimlich wichtig« ist), wollte er noch Kirchenmusiker werden, aber die übliche Glaubenskrise machte dem ein Ende. Bis vor einiger Zeit spielte er noch regelmäßig Orgel, aber jetzt fehlt ihm die Zeit für die täglichen zwei Stunden Übung, die er für nötig hält, um für das Instrument fit zu bleiben. Dafür träumt er davon, in diesem Jahr zwei, drei Rundfunkkonzerte zu dirigieren, Mahler soll es sein. In seinem Arbeitszimmer hat er neben Mahler noch zwei andere gerahmte Genie-Konterfeis an der Wand hängen, den allgegenwärtigen Joyce und Nietzsche.

Wollschläger hat überhaupt ein auffallend inniges Verhältnis zu monumentalen geistigen Vaterfiguren, wie etwa noch Karl Kraus und Arno Schmidt. Und er spricht von ihnen, er zitiert sie, als wäre er gestern noch mit ihnen zusammen gewesen, als wohnten sie gleich bei ihm um die Ecke, so intim und plastisch vergegenwärtigt er sie, wenn er in Jeans und Rollkragenpullover in seinem Zimmer steht und zum Beispiel den Wahnsinnsanfall von Nietzsche schildert oder Wilhelm Reichs psychoanalytische Experimente.

Er psychoanalysiert sich selber am laufenden Band, kennt jedes Wehwehchen bei seinem medizinischen Namen und würde sich, wenn es ginge, auch noch eigenhändig mit Krebsforschung beschäftigen, ein wissenschaftliches Labor, vielleicht gleich neben dem Badezimmer, wäre nicht schlecht. Jedenfalls entwickelt er seine Photos im eigenen Hobbylabor.

Manchmal kann es einem schon unheimlich werden, was dieser rundum sympathische und etwas traurige Mann alles tut und kann und sich aufhalst. So wurde aus einem Artikelchen über die Kirche und die Kreuzzüge ein 254-Seiten-Buch, für das er in der Bamberger Residenzbibliothek laufende Meter lateinischer Folianten durchforstet hat. Er liest ein Dutzend Sprachen, Niederländisch, Persisch, Hebräisch, usf., die er sich zumeist mit Wörterbuch und Grammatik in seinen vier Wänden beigebracht hat. Er gesteht aber gern ein, daß er, der Joyce- und unter anderem auch Faulkner-, Poe- und Chandler-Übersetzer, sicher Schwierigkeiten hätte, sich auf Englisch zu unterhalten, denn er ist auf Herüber und nicht auf Hinüber trainiert.

Er ist fleißig und penibel bis zum Gehtnichtmehr, als würde ihn da etwas Untergründiges jagen, und auch das hat er natürlich schon freudianisch sich auseinandergelegt. Die Kreativität, das ist für ihn ein Fluch, das sei nichts als der feste, schützende Deckel auf einem Überdruckkessel, der sonst wild mit allerlei Seelenklein in die Luft fliegen würde.

Dieser klarsichtig besessene Mann, verheiratet mit einer Naturgewalt von Frau, und einem ebensolchen Kind, einem zweijährigen Sohn, um die Beine, hatte mal einen großen Traum, und den schiebt er jetzt allmählich als resignierender Vierziger beiseite. Er übersetzt, seit fünfzehn Jahren, um sich seine eigene Schriftstellerei zu finanzieren, er hat einen über 1000 Seiten starken Roman geschrieben und schreibt weiter, aber mit der Zeit droht die Arbeit für die Werke der anderen die am eigenen aufzufressen.

Nicht weiter mehr schlimm, sagt er müde, Literatur ist sowieso absurd, und hofft doch still und leise auf späten Dichterruhm, man sieht es ihm an. Und außerdem, so absurd kann diese Literatur gar nicht sein, daß einer dafür soviel Opfer bringt, sich »schlechter als ein Arbeiter« bezahlen läßt und seine Wohnung mit Büchern vollpackt, daß er dem Besucher fingerdicke Spalte zwischen Türrahmen und Fußboden zeigen kann. In Zukunft muß, damit Wollschläger mit all seinem Joyce, Nietzsche und Kraus nicht eines Tages im Keller landet, für jedes neue Buch ein altes raus.

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