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Ödipus in Los Angeles

aus DER SPIEGEL 17/1991

Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Mr. Marlowe«, sagt er. Dann schließt er ganz leise die Tür hinter sich, ein großer hagerer, fast dürrer Mann mit weißen Haaren, sehr alt und sehr zerbrechlich und von vollendeter Höflichkeit. Später kehrt er noch einmal zurück, da hat der legendäre Detektiv es sich schon mit der Frau des Alten auf dem Sofa bequem gemacht, schaut nur einmal zwischen zwei Küssen auf, zu dem Mann in der Tür, ein einziges kurzes Heben der schweren Lider. Am meisten bedauert der Alte, daß er vergessen hat anzuklopfen.

Das war 1975, zwei Jahre vor seinem Tod, sein letzter Auftritt: Jim Thompson spielt den Richter Grayle, den gehörnten Ehemann, in der Verfilmung von Chandlers »Fahr zur Hölle, Liebling«, mit Robert Mitchum und Charlotte Rampling. Eine Hommage an den großen Kollegen. Eine Anekdote zur Filmgeschichte.

Dabei hatte sein Flirt mit Hollywood so hoffnungsvoll begonnen. Für Stanley Kubrick schrieb der weitgehend unbekannte Krimi-Autor Jim Thompson in den fünfziger Jahren die Dialoge zu zwei Filmen. Robert Redford interessierte sich für ihn, und Sam Peckinpah verfilmte 1972 eines seiner Bücher, »The Getaway«. Er hatte das Skript selber schreiben sollen, aber dazu war er längst nicht mehr in der Lage, vom Alkohol zerfressen, verbraucht vom jahrelangen vergeblichen Klopfen an die Türen der Studios, von der Lohnschreiberei für irgendwelche Fernsehproduktionen. Als er 1977 starb, war keines seiner 29 Bücher auf dem amerikanischen Markt.

14 Jahre später wird Anjelica Huston für den Oscar nominiert, für ihre Rolle als platinblondes Biest in »Grifters«, Stephen Frears'' Verfilmung des gleichnamigen Thompson-Romans. »Grifters« (produziert von Martin Scorsese, nach einem Drehbuch des Krimi-Autors Donald Westlake) ist eine kühl inszenierte Dreiecksgeschichte um Mutter, Sohn und eine unheilige Myra. Düpierte Betrüger, Abzocker, die sich selber und anderen etwas vormachen, bis sie, am Ziel ihrer Wünsche, erkennen, daß das Spiel ihnen längst aus der Hand genommen ist und sie nur die Verlierer darin sind: Aus den gefährlichen Liebschaften wird am Ende so etwas wie eine griechische Tragödie, Ödipus in Los Angeles.

Frears'' Film, der eben angelaufen ist, ist der Höhepunkt einer erstaunlichen Renaissance. Früh entdeckt hatten den Autor die Franzosen, schon in den fünfziger Jahren erschienen Thompsons Werke in der berühmten Serie noire bei Gallimard. Jean-Luc Godard wollte »1280 schwarze Seelen« verfilmen, den Film drehte schließlich 1981 Bertrand Tavernier. Der verlegte die Handlung aus den Südstaaten nach Kolonialafrika, und »Der Saustall« wurde ein Welterfolg. Seit Anfang der siebziger Jahre werden Thompsons Romane, wenngleich durch die Übersetzer arg verstümmelt, auch in Deutschland veröffentlicht.

Jetzt ist in Hollywood, so das Fachblatt Variety, eine Jim-Thompson-Manie ausgebrochen. Bereits im vergangenen Sommer lief in amerikanischen Kinos James Foleys »After Dark, My Sweet«, die junge Regisseurin Maggie Greenwald verfilmt, nach »The Kill-Off«, nun auch »Savage Night«, Barry Levinson produziert »South Of Heaven«.

Der Groschenroman-Schreiber als Kultautor, der Chronist der amerikanischen Kleinstadt-Höllen endlich aufgenommen in den Hollywood-Himmel, wo er gleich neben Chandler thronen soll: Der späte Ruhm ist nur ein weiteres Mißverständnis in der Geschichte des James Myers Thompson, allerdings nicht die schlechteste Pointe für diese Geschichte. Nachzulesen ist das jetzt in einem Buch von Michael McCauley: »Sleep With The Devil - A Biography Of America''s Greatest Noir Writer"*.

In Anadarko, Oklahoma, wurde er 1906 geboren, Sohn des Sheriffs, eines notorischen Glücksritters. Mit 15 wird Jim Thompson ein Schriftsteller, mit 17 bricht er zusammen: Lungentuberkulose und Delirium tremens. Er arbeitet auf den texanischen Ölfeldern, handelt mit illegalem Schnaps, studiert Landwirtschaft. Und vielleicht hat sein Unglück erst richtig begonnen, als er sich, 1941, endlich am Ziel glaubt, seinen ersten Roman veröffentlicht.

Er war damals nach New York gefahren, hatte die Verlage abgeklappert, bis ihm einer ein Hotelzimmer und eine Schreibmaschine bezahlte. Er mußte Geld verdienen, um seinen Vater aus dem Pflegeheim zu holen. In zehn Tagen wollte er einen Roman liefern, und er hielt sein Versprechen. Bis das Buch akzeptiert war, verging fast ein Monat. Am gleichen Tag soll ihn ein Telegramm erreicht haben: Sein Vater war tot, er hatte sich die Füllung einer Matratze in den Mund gestopft.

Vielleicht war alles nur ein unglückliches Zusammentreffen der Ereignisse, _(* Michael McCauley: »Jim Thompson. Sleep ) _(With The Devil«. Warner Book, New York; ) _(340 Seiten; 19,99 Dollar. ) die ganze Selbstmord-Geschichte vielleicht eher eine Schuldphantasie des Sohnes, eine Anekdote aus dem Selbstzerstörungs-Repertoire des Trinkers. Zu den Legenden, die Thompson sich selber erfand, kommen jene höchst widersprüchlichen Geschichten, die seine Freunde sowie seine Witwe Alberta und seine Kinder verbreiten. Besonders hartnäckig hält sich das Gerücht, daß Alberta, die Katholische, ihrem Gatten nicht nur die Scheidung verweigert, sondern daß sie ihn überdies gezwungen habe, sich sterilisieren zu lassen. Das erklärte immerhin den Frauenhaß seiner Helden, der sadistischen Prügler, Möchtegern-Machos und impotenten Muttersöhnchen: ein Akt literarischer Notwehr.

Er war ein Viel- und Schnellschreiber, seine besten Geschichten aber gehen weit über das Genre hinaus, nicht nur weil sie, damals immerhin formal ungewöhnlich, von Mord erzählen aus der Perspektive der Täter, sondern weil diese Täter sich zu ihren Taten eine ganze Philosophie erfinden, eine Theologie des Mordes und die Moral dazu.

»Es ist eine verkehrte, verquere Welt«, erklärt der Deputy-Sheriff und Killer Lou Ford, in »Der Mörder in mir«, einem seiner Opfer. Es kann einer diese Welt durchschauen und dennoch weiter mitmischen, »einen Fuß auf beiden Seiten« haben, bis er sich nicht mehr bewegen kann, bis es ihn »eines schönen Tages zerreißt. Mittendurch«. Diese »Krankheit« - »paranoide Schizophrenie« nennt sie der medizinisch vorgebildete Mörder Ford - ist es, die Thompsons Helden zu ihren Taten treibt, und jeder Mord ist nur das Resultat jener inneren Logik, der sie folgen, eines sich verselbständigenden Mechanismus, und nicht mehr gerechtfertigt durch irgendeine Leidenschaft, durch die Gier nach Geld oder nach Liebe.

Vielleicht war da ein furchtbares Erlebnis in ihrer Vergangenheit, und von Inzest träumen sie fast alle. Aber solch freudloser Rechtfertigungen bedarf es gar nicht, im Grunde ist es nur das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein im Leben, »von diesem kleinen Nichts zum nächsten kleinen Nichts« gewechselt zu haben, das sie zu Mördern werden läßt: _(* Mit Anjelica Huston, Pat Hingle. ) die kleinen Spieler, die Handelsvertreter, die halbverrückten Boxer und all die anderen, die, zutiefst überzeugt von ihrer Nichtigkeit, den großen leeren Traum vom Erfolg träumen und von etwas, für das es sich lohnte zu leben.

So sind sie Gefangene ihres eigenen Denkens und gefährlich in ihrer scheinbaren Naivität. Es kann einer, wie »Dolly« Dillon in »Höllenweib«, »keiner Fliege was zuleide tun« und die schwangere Frau umbringen, ein »Unfall, selbstredend«. Es kann einer, wie der Kinobesitzer in »Nichts als Mord«, sich vor seinen eigenen mörderischen Plänen fürchten, »aber wenn es der einzige Weg war, ein glückliches und anständiges Leben zu führen . . .«

Thompson macht kein Hehl daraus, daß er mit der Weltsicht seiner Helden zutiefst übereinstimmt. Das Land der unendlichen Möglichkeiten: In seinen Romanen ist es ein einziges Nest von beschränkten, gefräßigen, geilen Provinzlern, die Zeit der Depression zur Ewigkeit geworden.

So kann, in der bösen Kleinstadt-Satire »1280 schwarze Seelen«, der mordende Sheriff Nick Corey sich als Erlöser fühlen, ein wiedergeborener Christus, Killer von Gottes Gnaden, und das ist keineswegs nur die Ausgeburt eines Verrückten. In der schlimmstmöglichen aller Welten, in einer Welt der lebenden Toten ist der Mörder nur derjenige, der das Spiel zu Ende bringt.

»Ja, das wär''s dann wohl«, stellt Lou Ford kurz vor seinem Tod fest. »Es sei denn, daß sie unsereinem da drüben noch eine Chance geben. All den Leuten, die von Anfang an die schlechtesten Karten hatten. Die sich so viel gewünscht und die so wenig bekommen haben. Die es so gut meinten und denen es so schlecht ausgegangen ist . . . Uns allen.«

* Michael McCauley: »Jim Thompson. Sleep With The Devil«. WarnerBook, New York; 340 Seiten; 19,99 Dollar.* Mit Anjelica Huston, Pat Hingle.

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