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FERNSEHEN Offener Kanal

Nach langem Zögern fordern ARD und ZDF jetzt ihre Zuschauer zur Kritik auf. Ziel: eine »unablässige Kommunikation mit den Konsumenten«.
aus DER SPIEGEL 33/1971

Fast zwei Jahrzehnte lang haben sich Westdeutschlands Fernseh-Zuschauer über die Selbstherrlichkeit ihrer Funk-Intendanten beschwert. Nun sollen sie in die Funkhäuser kommen und mitreden.

Sie dürfen über »Panorama« und »Monitor« meckern und sich über »Das Wort zum Sonntag« mokieren. Sie können Programmdirektoren attackieren. Moderatoren beschimpfen, aber auch über streitsüchtige Nachbarn, unpopuläre Politiker oder ungehorsame Kinder schelten. Und das alles vor den Mikrophonen und Kameras des deutschen Fernsehens.

»Äußern Sie Ihre kritische Meinung"« ermunterte kürzlich der NDR die Zuschauer seines Dritten Programms und lud »alle Interessierten« zur Programm-Kritik ins Funkhaus Hannover ein. »Rufen Sie den Intendanten an!« animiert der Hessische Rundfunk und verbindet Anrufer direkt ins Studio. Dort pflegt Sender-Chef Werner Hess neuerdings einen »Dialog mit dem Zuschauer«. Und wer einen »gewissen Ärger im Herzen« hat, kann sich auch an den ZDF-Intendanten Karl Holzamer wenden, der seinen Kanal demnächst um eine »Mecker-Ecke« bereichern will.

Mit Intendant Werner Hess (M.) im Hessischen Rundfunk,

In Köln plant die Redakteurin Lisa Kraemer für das ARD-Nachmittagsprogramm ein »Ventil« (Titel der Sendung), durch das »alle, die mögen, für zwei Minuten Dampf ablassen können. Thilo Schneider. stellvertretender Chefredakteur des Münchner Fernsehens, arrangiert für das BR-Studienprogramm regelmäßig seine »Polit-Parties«, auf denen jeweils 100 bis 200 bayrische Bürger so leidenschaftlich über Frauen-Emanzipation. Arbeiter-Sorgen und Kinder-Erziehung debattieren, »daß die Fetzen fliegen«.

WDR-Direktor Werner Höfer, der sein Drittes Programm schon im letzten Winter von TV-Kritikern auf dem Bildschirm rezensieren ließ ("Reflexe"), möchte mit seinen Zuschauern in der neuen Sendereihe »Glashaus« ins Gespräch kommen. Höfer: »Wir wollen das Medium durchsichtig machen und eine unablässige Kommunikation zwischen Produzenten und Konsumenten herbeiführen.«

Dieser Notwendigkeit haben sich die Funk-Herren jahrzehntelang widersetzt. Schon Bertolt Brecht hatte 1932 in seiner »Radiotheorie« geschrieben: »Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens ... wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen.«

Und seither haben vor allem linke Medienforscher immer wieder die »Emanzipation der passiven Opfer des Fernsehens, die aktive Beteiligung der Zuschauer« gefordert (TV-Kritiker Egon Netenjakob). Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger glaubt sogar, in einer künftigen sozialistischen Gesellschaft »jeden Empfänger als einen potentiellen Sender« mobilisieren zu können.

Doch erst als Pädagogen, Gewerkschaftler und Soziologen für mehr Mitbestimmung demonstrierten, erst als Interessen-Verbände wie die »Aktion Funk und Fernsehen« gegen die »Diktatur aus der Flimmerkiste« aufbegehrten und in den Sendern das Unbehagen über den Mangel an seriöser Zuschauer-Forschung wuchs, wurden die Programmgestalter hellhörig. Sie wollten nun endlich, wie der WDR-Redakteur Alexander von Cube sagt, »nicht mehr einfach ins Blaue senden«, sondern ihre Klientel besser kennenlernen,

Programm-Vorbilder dafür boten sich den Fernsehleuten beim Hörfunk, der den »Schritt vom monologischen zum dialogischen« Medium (Saar-Intendant Franz Mai) bereits vor einigen Jahren gewagt hatte. Radio-Redakteure vermitteln seither Hörer-Kontakte mit Ministern und Seelsorgern und geben in Mecker-Ecken jetzt auch Gelegenheit zu Funk- und Fernsehkritik.

Vielen Fernsehredakteuren sind freilich Dialog-Modelle dieser Art -- vergleichbar etwa den Leserbriefspalten der Presse -- noch längst nicht revolutionär genug. Sie möchten, so der Münchner Redakteur Manfred Boos« »das Medium als Meinungsforum auch für den Zuschauer nutzen«.

Boos ermutigt beispielsweise die Zuschauer seines BR-Magazins »Thema« nach einzelnen Filmbeiträgen zu telephonischer Meinungsäußerung, die er -- unzensiert und kommentarlos -- jeweils 40 Sekunden lang in die Live-Sendung einblendet. Auf diese Weise gelingt es ihm, über »den offenen Kanal« (Boos) Streitgespräche der Zuschauer untereinander zu provozieren.

Das Dritte WDR-Programm rühmt sich, mit seiner erstmals im letzten Februar ausgestrahlten »Orakel«-Sendung »einen Meilenstein in der TV-Geschichte gesetzt« zu haben: Während eine Experten-Runde etwa über die Umweltverschmutzung vor der Fernsehkamera diskutiert, werden die Betrachter am Bildschirm in einem »phone-in« aufgefordert, die kontroversen Gelehrten-Thesen zu kommentieren. Die Anrufe werden dann von einem Computer ausgewertet und in die laufende Sendung eingespeist. »Man kann«, schwärmt Cube, »mit diesem Verfahren, diesem Weg zur direkten plebiszitären Demokratie jedem Showmeister zeigen, ob die Leute zu Hause lachen oder gähnen.«

Vorerst indes sind die Funkherren noch damit beschäftigt, über die -- sehr unterschiedlichen -- Erfahrungen mit dem »feedback« (TV-Jargon) nachzudenken. Während »Orakel«- und »Thema«-Zuschauer »sehr diszipliniert« und »auf überdurchschnittlichem Niveau« mitreden, palaverten die Gäste der nur von 70 Bürgern besuchten NDR-Meckerwiese in Hannover über den »Mißbrauch von Fremdwörtern im Fernsehen« oder verlangten, der Bildungskanal möge täglich »den ersten Akt aus dem Opernhaus Hannover übertragen«. NDR-Redakteur Ludwig Schubert: »Bei vielen Zuschauern fehlt noch das Medienverständnis.«

Das hat auch Chef-Mainzelmann Holzamer festgestellt. Er beklagt, daß seine Kunden am Telephon hin und wieder »zu einem Schabernack oder gar zu einer Unflätigkeit« aufgelegt sind.

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