
Scholz’ Reaktion auf Holocaustrelativierung »Gerade für uns als Deutsche!«


Kanzler Scholz auf der Terrasse des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses: Kommunikativ befremdlich
Foto: Christoph Soeder / picture alliance / dpaOlaf Scholz gilt nicht als ein flinkzüngiger oder impulsiver Politiker. Wenn er jedoch Menschen unterbrechen möchte, weil ihm widerstrebt, was diese sagen, dann ist er dazu durchaus in der Lage. Und wenn er das tut, dann war das bisher stets eine Nachricht wert.
Bei einer DGB-Kundgebung zum 1. Mai in Düsseldorf verteidigte er die Linie der Bundesregierung zum Ukrainekrieg gegen lautstarke Demonstranten, die ihn als Kriegstreiber bezeichneten, auf ungewohnt leidenschaftliche Weise.
Beim Katholikentag Ende Mai diskreditierte er von der Bühne eine Intervention von Klimaaktivist:innen als »schwarz gekleidete Inszenierungen […] von immer den gleichen Leuten«, die ihn »an eine Zeit, die lange zurückliegt« erinnern würden. Luisa Neubauer warf ihm daraufhin vor, die NS-Herrschaft zu relativieren. Scholz wies diesen Vorwurf entschieden von sich. Die Uneindeutigkeit seiner Aussage wirkte kommunikativ befremdlich.
Was nun am Dienstag bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas vorgefallen ist, war rhetorisch umso verstörender, weil diesmal nicht das Problem war, was Scholz gesagt hatte, sondern: was nicht.
Abbas wurde von einem Journalisten gefragt, ob er sich fünfzig Jahre nach dem Münchner Olympia-Attentat 1972 im Namen der Palästinenser bei Israel und Deutschland entschuldigen und zur vollständigen Aufklärung der Geiselnahme beitragen wolle – woraufhin dieser in einem abscheulichen Quatsch-Whataboutism Israel unmissverständlich einen fünfzigfachen Holocaust vorwarf, den der Staat seit 1947 an palästinensischen Orten begangen haben soll: »50 Massaker, 50 Holocausts«. Die Verwendung dieses Begriffs in Bezug auf Handlungen Israels, auch noch im Plural, ist besonders monströs, da die Einzigartigkeit des Holocaust mit einer ausfallenden Offenheit gleich fünfzigfach relativiert wird. Während Scholz noch kurz zuvor betont hatte, dass er den von Abbas benutzten Begriff der Apartheid im Falle Israels nicht für richtig erachte, herrschte bei diesem bizarren Holocaustvergleich – Schweigen. Woraufhin die Pressekonferenz abrupt endete.
Ist dieses mittlerweile bekannte, professionalisierte Phlegma des Kanzlers inzwischen so potent, dass man selbst bei einer klaren Holocaustrelativierung nicht einmal mehr eine der basalsten Reaktionen erwarten darf, zu der vermutlich die Mehrheit der deutschen Regierenden fähig ist? Ist beim entschlossen leidenschaftslosen Scholz ein sofortiger Widerspruch zu viel verlangt? Passivität – aber als Politik?
Reaktionslosigkeit als diplomatischste Reaktion?
Der »FAZ«-Journalist Patrick Bahners hat in dieser Angelegenheit auf Twitter eine bedenkenswerte Anmerkung gemacht. Er schrieb, dass man als Kanzler die deutsche Sprecherposition und die Notwendigkeit von diplomatischem Taktgefühl berücksichtigen müsse: »Im Reflex, als deutscher Regierungschef nicht automatisch einen Gast über die richtige Bedeutung des Begriffs Holocaust belehren zu wollen, sollte man auch etwas Positives erkennen können .« Und in einem weiteren Tweet spezifizierte er, was er mit diesem Positiven meint: »Zurückhaltung im Belehren Dritter über Lehren aus der deutschen Geschichte .«
Ist es denkbar, dass diese beiden politischen Rollen, das Scholzsche Schweigen bewirkt haben? Einerseits die Rolle des höflichen Gastgebers, der seinen Gast nicht unterbricht, andererseits die Rolle des Deutschen, der einem ausländischen Politiker keine historische Nachhilfe über das Verbrechen gibt, das die Deutschen verübt haben?
Der britische Politiker und Diplomat Sir Harold Nicolson, der auch an der Pariser Friedenskonferenz 1919 in Versailles teilnahm, hat 1939 unter dem Titel »Diplomacy« ein Standardwerk über diplomatische Kommunikation veröffentlicht, ein Handbuch über kommunikatives Verhandlungsgeschick. Darin ist zu lesen:
»Der Unterhändler [d. h. der Diplomat] muss nicht nur vermeiden, Irritation erkennen zu lassen, wenn er mit der Dummheit, der Unehrlichkeit, der Brutalität oder der Anmaßung derjenigen konfrontiert wird, mit denen er die unangenehme Pflicht hat, verhandeln zu müssen; sondern er muss alle persönlichen Animositäten, Vorlieben, Überschwänglichkeiten, Vorurteile, Eitelkeiten, Übertreibungen, Dramatisierungen oder Empörungen unterlassen .«
Dieser politische Stoizismus mag diplomatisch geboten sein, es geht in diesem Falle aber um so viel mehr als Politisches. Es geht um Wahrheit. Es geht darum, dass in einer kruden geschichtlichen Verdrehung die industrialisierte Massenvernichtung von Jüdinnen und Juden nicht verharmlost und Täter nicht zu Opfern gemacht werden dürfen; es geht hier um etwas, das größer ist als eine diplomatische Etikette und Gastgeberqualitäten, um etwas, das so wichtig ist, dass es – wann immer nötig – laut, beherzt und gegebenenfalls auch undiplomatisch verteidigt werden muss. Welchen Sinn hat die stets betonte Staatsräson, auf die man sich in Deutschland im Geiste eines »Nie wieder!« zu Recht beruft und besinnt, wenn in einer simplen, überschaubaren Kommunikationssituation wie einer Pressekonferenz diese Selbstverständlichkeit durch Schweigen fahrlässig verraten wird?
Dass Scholz diese Staatsräson vertritt, steht außer Frage und ist selbstverständlich. Wer jedoch das Protokoll und die Diplomatie für wichtiger erachtet als einen Einspruch gegen eine öffentlich vorgetragene Lüge, nimmt auch eine Retraumatisierung der Opfer des Nationalsozialismus sowie ihrer Nachfahren in Kauf. Ist Scholz nicht auch Kanzler dieser deutschen Bürger:innen?
Dass nun der Regierungssprecher Steffen Hebestreit die Schuld für diese Reaktionslosigkeit auf sich nimmt, weil er die Konferenz voreilig beendet hat, macht die Sache nicht besser . Es ist und bleibt die Verantwortung des Bundeskanzlers, sich zu solch einem Eklat zu verhalten, und sei es nachträglich durch eine angebrachte Entschuldigung. Stattdessen erklärte Scholz erst am Dienstagabend der Bild und am Mittwoch auf Twitter: »Gerade für uns Deutsche ist jegliche Relativierung des Holocaust unerträglich und inakzeptabel .«
Unabhängig davon, dass die Relativierung des Holocaust immer und überall inakzeptabel ist: Was ist das für ein auf so vielen Ebenen absurd selbstbezogener Satz? Erst wird die Verharmlosung unkommentiert stehen gelassen und dann bedauert, wie sehr solch eine Aussage gerade Deutsche plage, ja vor allem für diese unerträglich sei. Wie schlimm diese Belastung für jüdische Deutsche und nichtdeutsche Jüdinnen und Juden sein muss, geht in dem bemüht-betulich rechtschaffen wirken wollenden »Gerade für uns als Deutsche!« unter. Ja, es muss schon besonders hart sein, wenn man als deutscher Kanzler immerzu Holocaustrelativierungen stumm und still leidend ertragen muss.
Selbst wenn man also die möglichen Erklärungen dafür, warum Scholz nicht sofort reagiert hat, ernst nähme – Blackout, Diplomatie vor Staatsräson, Protokoll der Pressekonferenz, ein vorschneller Regierungssprecher, mangelnde Reaktionsschnelligkeit, »Mein Hund hat meine demokratischen Reflexe gefressen« – so bliebe dann immer noch eine andere sagenhafte Unfähigkeit: eine adäquate Reaktion, die nicht klingt, als hätte man sie aus dem Papierkorb der Documenta-Krisenkommunikation gefischt.